Im Rahmen unserer Interviewreihe sprachen wir mit Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, einem renommierten Experten des deutschen Gesundheitswesens, über die komplexen Herausforderungen und Chancen der digitalen Transformation. Mit seiner profunden Erfahrung und seinen Einblicken in Gesundheitspolitik, Medizin und technologische Innovationen bietet Gerlach eine kritische Analyse des Status quo und skizziert Wege für eine effizientere und zukunftsorientierte Digitalisierung im Gesundheitswesen.


Status quo in Deutschland

Wie würden Sie den aktuellen Stand der digitalen Transformation des deutschen Gesundheitswesens beschreiben?

Ferdinand Gerlach: Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass wir gegenüber anderen europäischen Ländern wie Estland oder Dänemark mehr als 15 Jahre verloren haben. 15 Jahre, in denen die Transformation hätte stattfinden können, sich aber viel zu wenig getan hat.

Warum ist das so?

Ferdinand Gerlach: Es gibt eine Vielzahl von Gründen. Erstens: Transparenz ist nicht gewollt. Es gibt nicht wenige Akteure, denen eine gewisse Intransparenz entgegen kommt und die nicht bereit sind, diese aufzugeben. Zweitens: Eine digitale Transformation bedeutet für einige Akteure auch Kontrollverlust über bisher exklusive Daten und damit auch Machtverlust. Drittens: Unabhängig vom Gesundheitswesen wird in Deutschland häufig eine 100%ige Lösung angestrebt. Digitale Transformation kann aber letztlich nur durch ein iteratives Ausprobieren erreicht werden. Viertens: Wir haben in Deutschland auch deshalb ein veraltetes System, weil wir oft nicht von anderen Ländern lernen wollen, sondern alles neu entwickeln möchten. Da ist auch eine gewisse Arroganz erkennbar. Fünftens: Im deutschen Gesundheitswesen ist das technologische Denken aufgrund des dominierenden Selbstverwaltungssystems sehr politikgetrieben. Viele Jahre hatten die Selbstverwaltungspartner das Sagen und Patienteninteressen oder das BMG hatte wenig Durchschlagskraft. Uns fehlt zudem eine vernünftige digitale Infrastruktur. In Estland hat Digitalisierung beispielsweise Verfassungsrang. Sechstens: Jedes Ministerium macht seine eigene ressortspezifische Digitalisierungsstrategie.

Wie kommen wir da nun raus?

Ferdinand Gerlach: Zunächst sollten wir nicht von Digitalisierung sprechen, sondern von digitaler Transformation. Es wird immer noch viel zu analog gedacht: Digitalisierung ist bei uns oft nur Elektrifizierung, wir brauchen aber einen Transformationsprozess, der zum Beispiel bei der Medikation den gesamten Medikationsprozess abbildet und nicht nur das E-Rezept auf Papier 1:1 in ein digitales Formular übersetzt.
Als Nächstes ist das Thema „Echtzeit-Gesundheitssystem“ zentral: Das kann und wird nur cloudbasiert funktionieren, das bedeutet eine automatische Synchronisation aller vorhandenen Daten in Echtzeit. Voraussetzung hierfür sind bestmöglich abgesicherte Hochverfügbarkeits-Rechenzentren. Das wiederum heißt, die einzelne Arztpraxis, die einzelne Apotheke, der Pflegedienst, der Physiotherapeut, das Krankenhaus unterhält dann keine eigenen physischen Server mehr oder Konnektoren, Lesegeräte, kümmert sich nicht selbst um Softwareupdates und wird keine teuren Firmen mehr bezahlen, die dann in die Praxis oder in die Apotheke kommen, viel Geld kassieren und am Ende funktioniert es dann doch nicht. Eher wird es ein Echtzeitdaten-Gesundheitssystem geben müssen, mit individuellen Gesundheitsdatenräumen für Patienten sowie nationalen und europäischen Gesundheitsdatenräumen für primäre und sekundäre Nutzung, die ineinander integriert sind. Diese Vision ist in der aktuellen Digitalstrategie nicht ausreichend abgebildet. Diese muss aber zentral sein, weil zu sehr im Status quo verhaftete Diskussion, die wir jetzt führen, mittel- und langfristig nicht zielführend sein kann.

© Stiftung Gesundheitswissen
Prof. Dr. Ferdinand Gerlach

ePA-Einführung

Lassen Sie uns über die Einführung der ePA sprechen: Es hat zwar lange gedauert, aber immerhin sind wir jetzt ein ganzes Stückchen weiter. Was sagen Sie dazu?

Ferdinand Gerlach: Die ursprüngliche Konzeption sieht zum ersten Mal in der Geschichte vor, dass Laien die Aufgabe zugewiesen bekommen, eine Krankenakte zu führen. Die Realität sieht oft anders aus: Manche Menschen sind vergesslich, andere sind alt oder dement. Einige sind  vielleicht alkoholisiert oder depressiv. Einige haben Schmerzen. Viele sind vielleicht auch gar nicht interessiert. Das vielleicht größte Problem ist: Sie sprechen nicht unsere „Experten-Sprache“. Viele kennen sich in der digitalen Welt nicht aus, können sich in dieser nicht organisieren oder zurechtfinden.

Was sind die Konsequenzen?

Ferdinand Gerlach: All dies führt zwangsläufig dazu, dass eine patientengeführte Akte, mit der die Patienten dann durch die Gegend laufen, unvollständig, löchrig und nicht aktuell ist. Das wiederum führt zwangsläufig dazu, dass alle Profis ihre Primärsysteme weiterhin parallel betreiben müssen. Sie können und dürfen sich nicht darauf verlassen, dass das, was der Patient da mitbringt, vollständig und aktuell ist.

Was ziehen Sie für eine Schlussfolgerung daraus?

Ferdinand Gerlach: Erstens: Die bisherige Vorstellung einer vom Bürger oder vom Patienten geführten Akte ist falsch: Profis müssen diese zuverlässig nutzen können. Zweitens: Die auf Risiken fokussierte Datenschutzdiskussion deutscher Prägung, die zu viel unnötiger Behinderung einer sinnvollen Nutzung führt, hat oftmals einen falschen Fokus. Wir vertrauen zu sehr auf Aufklärungs- und Einwilligungsformulare und wir vernachlässigen technische Datensicherheitsmaßnahmen, Cybercrime-Abwehr, kluges Identitätsmanagement etc. Wir hatten bisher auch kein Konzept für Trust by Design. Erst mit dem jetzt verabschiedeten Digitalgesetz holen wir auf: Wie in anderen Ländern sehe ich als Patient zukünftig, was über mich gespeichert ist und wer wann auf meine Akte zugegriffen hat. Das wird mit unlöschbaren Wasserzeichen dokumentiert. Was uns bisher fehlte, sind harte, glaubwürdig kommunizierte Strafen bei Missbrauch. Wir haben uns bisher zu sehr auf einen formaljuristisch leerlaufenden, komplett veralteten Datenschutz konzentriert. Aber Datensicherheit, Strafen bei Missbrauch und auch Trust by Design inklusive Identitätsmanagement wurden vernachlässigt.

Wenn wir uns jetzt dieser neuen Zukunftsvision zuwenden, die in vielen anderen Ländern oder der Industrie zum Teil bereits umgesetzt wurde, dann würde das bedeuten, dass Ärzte, Apotheken und Kliniken keinen Aufwand damit haben, eine ePA zu füllen. Drittens: Die Vision. Es gibt  zukünftig einen patientenzentrierten Gesundheitsdatenraum für jeden Patienten. Wenn man jetzt noch weiterdenkt, kommen wir zum Digital Twin. Die Vision der Zukunft sollte sein, dass im Interesse des Patientenwohls bei jedem Bürger von Geburt an vorhandene gesundheitlich relevante Daten zusammengeführt werden: Laborwerte, Bildgebung, Eingriffe, Krankheiten, aber auch die genetische Sequenz oder Stoffwechseleigenarten. Dann habe ich, vereinfacht gesagt, einen digitalen Zwilling, der dann demnächst sogar via E-Konsil auch zum spezialisierten, KI-getriebenen Avatar-Arzt gehen kann. Solche Visionen werden aber nur funktionieren, wenn diese Daten wirklich strukturiert zusammengeführt werden können. Und das wiederum muss national integriert sein, so wie in den anderen europäischen Ländern schon der Fall und zukünftig, zumindest in Teilen – Patient Summary als Stichwort – auch in einem europäischen Gesundheitsdatenraum.

Als Fazit ist zu sagen: Sowohl die kulturellen Unterschiede, die Gesetzgebungs-Historie sowie der unausgesprochene Wunsch Transparenz zu verhindern sind wohl zentrale Gründe, warum in Deutschland seit mehr als 15 Jahren kein digitaler Transformationsprozess entstanden ist.

Positivbeispiel

Was lief aus Ihrer Sicht bisher gut?

Ferdinand Gerlach: Da fällt mir eigentlich nur ein einziger Bereich ein, wo wir ja tatsächlich Weltspitze sind. Und das ist die Erstattungsfähigkeit von digitalen Gesundheitsanwendungen. Das war zumindest formal ein Durchbruch.

Warum war das so?

Ferdinand Gerlach: Da gab es einen ambitionierten Minister, der wollte dies. Das Thema ist irgendwann im Gesetz aufgetaucht. Ich würde fast sagen, an der Selbstverwaltung vorbei. Deshalb hat es wohl so schnell funktioniert. Bestimmte der oben genannten Probleme wurden einfach ausgeblendet. Die DiGAs werden ja für die Erstattung freigegeben, auch wenn sie noch nicht evidenzbasiert sind, auch wenn sie noch nicht gezeigt haben, dass sie einen konkreten Nutzen für die Versorgung haben und auch wenn sie nicht zweifelsfrei gezeigt haben, dass die Daten sicher sind. Ein durchaus problematisches Beispiel dafür, dass wir auch etwas umsetzen können, wenn nicht alles 100%ig klar ist.

Status quo in Dänemark

Blicken wir nach Dänemark – Was fällt Ihnen da ein?

Ferdinand Gerlach: Was die Dänen in ihrem Land hinbekommen haben, ist wirklich beeindruckend: Sie haben einige Krankenhäuser völlig neu auf der grünen Wiese gebaut und andere aufgerüstet. In denen gibt es eine Art Leit-Philosophie: „Patienten-Flow“. Die Patienten werden von Flow-Managern innerhalb kürzester Zeit durch das Krankenhaus gelotst und dabei von diversen digitalen Techniken und Automatisierungen unterstützt. Da laufen Roboter, selbstfahrende Lafetten, da sind die Siebe für die OPs im Hochregallager in der Wand und werden dort automatisch abgerufen. Die Lager für Materialien, für die Pflege und für Medikamente werden automatisch aufgefüllt. Die Blutproben gehen in kürzester Zeit ins Labor und sind 20 Minuten später im System. Die Patientenzimmer sind umfassend digitalisiert. Jeder Patient hat ein Display, kann von dort aus die Vorhänge öffnen und schließen, das Licht ein- und ausschalten, die Scheiben zum Flur können gefrostet oder durchsichtig gemacht werden. Es gibt eine Toilette, die automatisch den Patienten mit anhebt. Alles, um Personal möglichst effektiv einzusetzen und um den Prozess zu automatisieren. Im Idealfall hat der Patient einen reservierten Parkplatz, wenn er zum Krankenhaus kommt, wird mit einem iPad durchs Krankenhaus gelotst und wird dort sofort behandelt. Die durchschnittliche Liegezeit ist mit ca. 2,9 Tagen nur halb so lang wie bei uns. Die Dänen haben die Zitrone fast bis zum Anschlag ausgepresst und es geht dennoch weiter. Die so mögliche Ambulantisierung wird bei uns noch völlig unterschätzt. Die Stichworte sind: Hospital@Home, healthcare anywhere and anytime, digital devices, Sensor-Technik und vieles mehr.

Wunschdenken

3 Wünsche – Wenn Sie einer Fee begegnen würden und hätten drei Wünsche frei, was würden Sie sich wünschen?

Ferdinand Gerlach: Erstens: die Weiterentwicklung der Digitalstrategie mit dem klaren Ziel einer Echtzeit-Gesundheitsdatenverfügbarkeit.
Zweitens: Lernen von anderen und europäische Integration.
Drittens: Klare Vorgaben an jeder Klinik und bei jeder Anwendung den international üblichen FIHR-Standard als Schnittstellen zu nutzen.
Ein wichtiger Punkt ist auch, noch mehr über den Nutzen zu reden. Wir brauchen Use-Cases, wie man neudeutsch sagt, die konkret zeigen, warum das wichtig ist. Bei meinen Vorträgen zum Thema beschreibe ich den Nutzen anhand plastischer Beispiele wie: Medikamentenrückrufe, seltene Erkrankungen, Erkrankung im Ausland oder Krankenhausaufnahme.

Wenn wir ab 2025 eine ePA 2.0 mit Opt-out haben werden, dann muss der Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger offensichtlich sein. Damit muss ich zum Beispiel schneller und einfacher einen Termin buchen können, dann muss ich nicht mehr extra einen Impfausweis führen, sondern ich kriege automatische Erinnerungen. Dann haben alle meine behandelnden Ärzte alle notwendigen Informationen und ich kriege zusätzlich hilfreiche Informationen in verständlicher Sprache. Es muss also ein klarer Nutzen erkennbar sein, der für die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Profis so offensichtlich ist, dass jeder die ePA haben will.

Letzte Frage: Wer soll das tun?

Ferdinand Gerlach: Der Bundestag hat ja mit dem Digitalgesetz bereits die richtigen Weichen gestellt, aber ich sehe insbesondere auch die Krankenkassen in der Pflicht. Wir haben ja gesetzlich vorgegeben,  dass die Krankenkassen ihren Versicherten eine ePA zur Verfügung stellen müssen. Das ist auch eine deutsche Besonderheit. Aber wenn wir das ernst nehmen, dann müssen die Krankenkassen ihre Versicherten aktiv darüber informieren, warum eine ePA sinnvoll ist,  welchen Nutzen sie hat und – ganz wichtig – welche Risiken mit einer Nichtnutzung verbunden sind. Ich wünsche mir hier eine multimodale, Social-Media gestützte Kampagne, etwa mit Influencern, die auf unterschiedlichen Kanälen, auch über Kirchengemeinden, über Betriebe, über Sportvereine, über unterschiedlichste Strecken, je nach Zielgruppe, über konkrete Nutzenbeispiele kommunizieren. Das alles haben wir bisher ja gar nicht.
Wenn man außerdem die Hausärzte mit einbezieht und denen die Arbeit erleichtert, dann werden die Hausärzte ihren Patienten raten, diese ePA-App zu nutzen, weil die Behandlung damit besser, sicherer und einfacher wird: Die Arbeit der Hausärzte wird erleichtert und sie können ihre Patienten besser versorgen. Ich habe mit Hausärzten in Dänemark, in Estland und in anderen Ländern gesprochen. Die spüren tagtäglich einen konkreten Nutzen. Sie haben die Daten in Echtzeit in der Akte und müssen nicht wie bei uns irgendwelchen Faxen hinterhertelefonieren und Befunde zusammensuchen. Deutsche Hausärzte wissen oft nicht, wo ihre Patienten, etwa bei welchen Fachärzten, in Behandlung sind, was genau untersucht wurde und was der andere Arzt verordnet hat. Dieser fehlende Überblick und die damit einhergehende organisierte Verantwortungslosigkeit, die wir in unserem Gesundheitssystem fahrlässig tolerieren, könnten wir endlich überwinden. Es gibt in Deutschland einen besonders schlechten Informationsaustausch zwischen Haus- und Fachärzten und auch zwischen Kliniken und Praxen. Wir haben hohe und dicke Mauern zwischen den Sektoren: Die digitale Transformation kann dazu beitragen, diese Mauern zu überwinden, die Sektoren zu verbinden, Berufsgruppen zusammenzubringen und Teamorientierung zu fördern.


Zur Person: Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach war 16 Jahre und 11 Monate Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und ist Universitätsprofessor sowie Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gerlach war Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Derzeit leitet er u. a. die Deutsche Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin.

Hinweis: Die in dieser Interviewreihe geäußerten Meinungen und Positionen der Expertinnen und Experten entsprechen nicht zwangsläufig denen der Bertelsmann Stiftung. Zum einen möchten wir mit den Interviews einen breiten Dialog eröffnen. Zum anderen sollen die unterschiedlichen Expertenmeinungen ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Perspektiven und Herausforderungen erzeugen, die eine Transformation des Gesundheitssystems mit sich bringt.