Maro Bader sieht Deutschland noch nicht in einer Transformation des Gesundheitwesens. Der Digital Health-Experte der Roche Pharma AG schildert in diesem Interview, wo Deutschland steht und was zu tun ist, um die Transformation einzuleiten.


Herr Bader, welche Vision für das digitalisierte  Gesundheitssystem verfolgen Sie/Roche?

Maro Bader: Wir verfolgen das große Ziel einer personalisierten, individualisierten Gesundheitsversorgung in einem vernetzten, datengetriebenen, lernenden Gesundheitssystem. Und davon werden wir alle profitieren, also auch ich als Mensch, Sohn, Vater, Angehöriger. Jetzt ist natürlich die Frage interessant, wie wir dahin kommen? Wir bei Roche sind der Meinung, dass es eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitssystems braucht und dass diese nur über den Dialog aller Akteure geschehen kann.

Und wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Digitalisierung unseres Gesundheitssystems?

Maro Bader: Es ist in Deutschland sehr offenkundig, dass wir insgesamt noch einen niedrigen Digitalisierungsgrad im Gesundheitswesen haben, gerade im europäischen Vergleich. Im weltweiten Vergleich werden die Unterschiede noch deutlicher. Die Vernetzung von Gesundheitsdaten wird auf den Schultern der Bürgerinnen und Bürger umgesetzt, die selber dafür Sorge tragen müssen, dass ihre Informationen die richtigen Anlaufstellen im Gesundheitssystem finden. Es gehen häufig Informationen verloren und das ist etwas, wo Deutschland wirklich im internationalen europäischen Vergleich hinterherhinkt. Die Veränderungen kommen sehr langsam oder gar nicht voran, wenn es darum geht, überhaupt die Prozesse und Abläufe, Abwicklungen im Gesundheitssystem zu digitalisieren.

Ein Muss: strukturierte Daten

Gibt es besondere digitale Transformationsprozesse, die Ihnen wichtig sind?

Maro Bader: Ich sehe Deutschland noch am Startpunkt einer digitalen Transformation. Es gibt dabei drei Schritte, die umgesetzt werden müssen und durch noch viele Herausforderungen gebremst werden. Als erstes reden wir tatsächlich derzeit noch von Elektrifizierung (1). Das wäre beispielsweise ein Arztbrief als PDF. Der hilft uns allerdings noch nicht sehr viel weiter, wir müssen auch digitalisieren (2): die Daten statt in prosaischen Formaten, nun eben strukturiert, einheitlich und maschinenauswertbar etwa für Forschung und Entwicklung in standardisierten Datenmodellen und Austauschformaten hinterlegen.

Aber digitale Transformation beinhaltet nun auch noch einen dritten Schritt: die Transformation (3). Es gilt, die digitalisierten Prozesse aus der analogen Welt nun neu zu denken und mit den neuen Möglichkeiten neu zu gestalten und zu optimieren. Es geht mir dabei nicht nur um Prozesse, die aktiv mit Patientinnen und Patienten zusammenhängen, sondern auch um Versorgungs-, Verwaltungs- und administrative Prozesse. Schauen wir uns beispielsweise die Arzneimittelknappheit an. Wie toll wäre es, ein Frühwarnsystem zu entwickeln, das auf vollständig digitalisierten Lieferketten aufgesetzt wird? Dann wären wir in der Lage, mit künstlicher Intelligenz oder Optimierungsalgorithmen diese Prozesse zu verbessern und auf unerwartete Szenarien zu adaptieren.

Maro Bader, Roche Pharme AG

Und warum sind wir gerade noch nicht in der Lage, strukturierte Daten zu erfassen? Wie sehen Sie zu diesen drei Problemen konkrete Lösungen?

Maro Bader: Long story short: Uns fehlt die Vernetzung. Ohne Vernetzung keine Vernetzung. Und zwar Vernetzung in der Vision, Vernetzung in der tagtäglichen Zusammenarbeit und Vernetzung in der Kommunikation. Was wir derzeit haben, ist eine Selbstverwaltung, die sehr, sehr starke Einzelakteure und Interessenverbände hervorgebracht hat, die nicht zwangsläufig miteinander abgestimmt die Transformationsprozesse versuchen voranzutreiben. Das ist ein System, welches sich in der analogen Welt sehr stark bewährt hat und dazu geführt hat, dass Deutschland eigentlich ein sehr gutes, qualitativ hochwertiges und angesehenes Gesundheitssystem hat. Wenn es jetzt darum geht, eine fundamentale Änderung herbeizuführen, dann sind die vielen Hände am Lenkrad zu viel. Dann ist es tatsächlich ein Problem, dass diese Art der Governance, dieser Art der Struktur, die das Gesundheitssystem gemanagt, ins Stocken kommt, weil es sich schwertut, sich auf eine Vision zu einigen.

Als Folgesymptom haben wir tatsächlich auch eine Verunsicherung in der Bevölkerung. Ich erinnere mich, als die elektronische Patientenakte initiiert wurde, an öffentlich geführte Dispute zwischen dem Bundesdatenschutzbeauftragten Herrn Kelber und den Krankenkassenverbänden, ob denn die elektronische Patientenakte in ihrer derzeitigen Spezifikation legal war. Und da denke ich als normaler Bürger, der vielleicht von diesen Gesetzen nicht ganz so viel versteht, was soll ich da an Erkenntnissen gewinnen, wenn öffentlich zwei sehr gewichtige Stimmen darüber streiten, ob denn die ePA legal ist oder nicht? Warum es diesen Akteuren nicht gelungen ist eine Lösung zusammen zu entwickeln, zeigt, dass eine Abstimmung auf höchster Ebene nicht stattgefunden hat. Stattdessen zeigt man aus dem eigenen hohen Turm heraus mit dem Finger auf die anderen Türme.

Aber ist das Thema Datenschutz nicht tatsächlich wert, dass man darüber auch intensiv streitet?

Maro Bader: Ein Gesundheitssystem, in dem keine Daten geteilt werden, stagniert in der Forschung. Wenn wir das seit dem Jahr 1500 gemacht hätten, würden wir heute noch mit Blutaderlass arbeiten. In Deutschland haben wir derzeit keinen politischen Akteur oder Champion, der sich traut, diese Aussagen genauso zu treffen.

Unsere Grundphilosophie in Deutschland ist, dass die Souveränität, auch die Datensouveränität der Patientinnen und Patienten über allem steht. Wir haben in Deutschland die Debatte noch nicht geführt, wie das in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem aussehen kann. Wo ist das Individualrecht eigentlich auch betroffen von einem Gruppenrecht, was nicht wahrgenommen wird? Wir tun uns schwer zu verstehen, dass ein individueller Krankheitsverlauf die Quelle für die Heilung eines anderen Menschen sein kann und Daten zu diesen Erkenntnissen für alle interessant sind.

Positive Ansätze

Das wirkt jetzt wie eine sehr ernüchternde Bestandsaufnahme. Sehen Sie dennoch Beispiele für gelungene digitale Transformationsprozesse?

Maro Bader: Die Corona Warn-App war ein sehr großes Projekt, welches mit einem neuen Mindset, nämlich Open Source und einem Entgegenstellen der Sicherheitsdebatte, es tatsächlich geschafft hat, eine App zu entwickeln, die eigentlich kulturell undenkbar war in Deutschland. Und warum hat das geklappt? Ich glaube, weil man tatsächlich diese öffentliche Diskussion gut geführt hat. Man hat sehr schnell demonstrieren können, dass es im Interesse von allen ist, dass es auch möglich ist, eine so sensible App zu entwickeln, aber gleichzeitig im Einklang mit den Sorgen und Bedenken der Bürgerinnen und Bürger zu sein. Und ich glaube, man hat mit dem Open Source Ansatz etwas sehr, sehr Gutes gewählt, dass zumindest die ganze technische Community in diesen Dialog involviert war und eben nicht öffentlich dagegen geschossen hat. Es gab auch hier und da Kritik vom Chaos Computer Club und anderen Größen in der IT-Welt. Allerdings wurden die dann auch gehört und da wurde tatsächlich darauf reagiert.

Lassen Sie uns zum Schluss noch auf das Thema Forschung schauen und was dort im Sinne einer gewinnbringenden digitalen Transformation aus Ihrer Sicht noch zu tun ist.

Maro Bader: Klinische Studien haben sehr viele Herausforderungen, wenn es zum Beispiel darum geht, überhaupt Patientinnen und Patienten zu identifizieren, diese Patientinnen und Patienten anzusprechen und für das Mitmachen in der Studie zu werben. Hinzu kommt das Einwilligungs-Management, die Zusammenführung der Studiendaten, die Auswertung, die Anonymisierung etc. Das sind Prozesse mit der größten Auswirkung auf Qualität, auf Kosten und auf die Versorgungssicherheit im Gesundheitssystem.

Und außerdem sind es Prozesse, an denen sehr viele Akteure beteiligt sind, und die von jedem teilweise sehr unterschiedlich gehandhabt werden. Da versucht jedes Unternehmen, teilweise auch mit kommerziellen Absichten, einen eigenen Weg zu gehen. So verschlimmbessern wir die Situation. Wir haben diese übergreifenden Anwendungsbeispiele verschlafen, um gemeinsame Sache zu machen.

Eine konkrete Handlungsempfehlung von mir ist, ein neutrales Forum zu schaffen, wo alle, die es dafür braucht, inklusive der versorgenden Industrie, wo die Politik als Schirmherr das ganze leitet; so ein Forum haben wir aber nicht. Wir haben diesen Austausch nicht.


Zur Person: Maro Bader ist seit Januar 2021 im Health Systems and Governmental Affairs Team der Roche Pharma AG für die Themen rund um Digitale Transformation im Gesundheitswesen zuständig. Zusätzlich ist er als Sprecher der Arbeitsgruppe Health Data Spaces der BDI-Initiative „Gesundheit digital“ tätig; dort wird gemeinsam mit anderen Verbänden und Unternehmen an der Vision eines kollaborativen Datenraum Gesundheit gearbeitet. Darin soll die Vision von Gaia-X endlich auch im Gesundheitsbereich übergreifend entwickelt werden. Maro Bader hat Informatik an der Freien Universität Berlin studiert und sein Studium mit dem Master of Computer Science abgeschlossen. Er ist seit nun mehr als 12 Jahren in diversen Rollen an nationalen/internationalen Standorten für die Roche Group tätig.

Hinweis: Die in dieser Interviewreihe geäußerten Meinungen und Positionen der Expertinnen und Experten entsprechen nicht zwangsläufig denen der Bertelsmann Stiftung. Zum einen möchten wir mit den Interviews einen breiten Dialog eröffnen. Zum anderen sollen die unterschiedlichen Expertenmeinungen ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Perspektiven und Herausforderungen erzeugen, die eine Transformation des Gesundheitssystems mit sich bringt.