Wir sprachen mit Thilo Weichert, dem ehemaligen Datenschutzbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein, über die Herausforderungen und Missverständnisse bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland. Er beleuchtet die Rolle der Ärzteschaft, die politischen Rahmenbedingungen und die zentrale Frage des Datenschutzes, um ein umfassendes Bild der aktuellen Situation und der notwendigen Schritte für die Zukunft zu zeichnen.


Ärzteschaft und Digitalisierung

Herr Weichert, oft wird der Ärzteschaft vorgeworfen, Sie wehre sich gegen die Digitalisierung des Gesundheitssystems. Sie kennen das System und die Thematik schon lange. Ist das pauschal so korrekt?

Thilo Weichert: Ich kann mich erinnern, dass ich schon vor mindestens 15 Jahren zu Anfang der 2000er Jahre bei einem Kongress der Ärztekammer gemeinsam mit dem damaligen Vorsitzenden Herrn Bartmann von der Ärztekammer, der für die Digitalisierung damals zuständig war, für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und für eine Anbindung an die Telematik Infrastruktur geworben habe.
Und da hatte ich festgestellt, dass sehr viele Ärztinnen und Ärzte, ich würde mal sagen, ca. 30 bis 40 %, die aber sehr lautstark waren, sich ganz massiv dagegen zur Wehr gesetzt haben. Argument war der Datenschutz. Ich wurde auf die Versammlung eingeladen, weil ich als Datenschützer die Argumente gut widerlegen konnte, auch qualifiziert mit Verweis auf das SGB V, die 291 ff. SGB V und die technischen, organisatorischen, sonstigen Vorkehrungen.

Das hat aber vor allem die ambulant tätigen Ärzte nicht daran gehindert sich gegen die Anbindung an die Telematikinfrastruktur und die zusätzlichen Anwendungen zur Wehr zu setzen. Mein Eindruck war damals, dass insbesondere im ambulanten Bereich die Ärzte ganz gewaltige Befürchtungen hatten bezüglich der Kontrolle durch die Krankenkassen. Die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle durch die Kassenärztlichen Vereinigung und die Telematikinfrastruktur sind zwar zwei völlig voneinander getrennte Verfahren, aber das haben die Ärzte nicht so richtig verstanden. Ärzte sind auch nicht unbedingt diejenigen, die besonders digital affin waren oder sind, so dass sie im Prinzip diese formaljuristischen und insbesondere auch die technischen Differenzierungen nicht nachvollzogen haben. Das hat sich stark geändert in den letzten zehn Jahren.
Die Automatisierung der Praxissysteme ist heute fast vollständig abgewickelt. Es gibt kaum noch Ärzte, die ohne Arzt-Informationssystem ihre Praxisverwaltung durchführen.

Porträtaufnahme von Thilo Weichert
© Hier steht eine Quellenangabe.
Thilo Weichert, ehemaliger Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein

Politik und Datenschutz

Welche Rolle spielt die Politik in der Frage, warum wir in Deutschland so langsam mit der Digitalisierung vorankommen?

Thilo Weichert: Politik ist sehr kurzfristig motiviert durch die Notwendigkeit, wiedergewählt zu werden. Da ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens lange Zeit nicht im Ansatz ein Thema gewesen, mit dem man als Politiker punkten konnte. Das hat sich massiv geändert mit der Corona-Pandemie und als sich erwiesen hat, dass das Gesundheitswesen keine Daten zur Verfügung hat, um das Geschehen aktuell verfolgen zu können. Das Argument, dass das Gesundheitswesen nicht digitalisiert ist, ist heute ein sehr gutes Argument für Politiker, für sich selbst Werbung zu machen und auch zu beklagen, dass die Datenverarbeitung nicht so funktioniert wie sie sollte.

Immer wieder hört man auch, der Fortschritt der Digitalisierung scheitere am Datenschutz. Ist das so richtig?

Thilo Weichert: Ja und nein. Der Datenschutz ist definitiv kein Blockierer, wenn man sich anhört, was ein Peter Schaar oder was ich schon vor 20 Jahren gesagt haben und was ein Ulrich Kelber heute sagt als Bundesbeauftragter. Es gibt überhaupt keinen Hinderungsgrund Digitalisierung voranzutreiben und trotzdem Datenschutz zu realisieren. Die Datenschutzgrundverordnung von 2018 ist im Prinzip eine sehr digitalisierungsfreundliche Regelung, die es ermöglicht, Digitalisierung und Datenschutz zusammenzubringen.
Gerade im Gesundheitsbereich haben wir aber das Problem, dass in der Datenschutzgrundverordnung sogenannte Öffnungsklauseln existieren, die für die Verarbeitung von besonderen Kategorien von personenbezogenen Daten, also insbesondere den Gesundheitsdaten, den Mitgliedsstaaten die Gesetzgebungskompetenz weiterhin übertragen. Das hat man gemacht, weil die Regelungen in den Mitgliedsstaaten sehr, sehr unterschiedlich sind.
Das hatte zur Folge, dass man bei der Anpassung des deutschen Rechtes an die Datenschutzgrundverordnung im Prinzip so wenig machte, wie irgendwie notwendig erschien. Die Folge war, dass im Prinzip die alten Regelung des Bundesdatenschutzgesetzes, der SGB V und X und so weiter im Prinzip unverändert geblieben sind, obwohl eigentlich die Datenschutzgrundverordnung sehr viel mehr hätte ermöglichen können.
Und das ist einer der Gründe, dass die gesetzlichen Regelungen weiterhin sehr, sehr restriktiv sind.

Das Opt-Out für die elektronische Patientenakte wird kommen, einschließlich des Opt-Outs für die Forschungsnutzung der Daten. Sehen Sie in dem Argument, der medizinischen Forschung zu helfen, möglicherweise einen Treiber für breitere Akzeptanz der Digitalisierung?

Thilo Weichert: Es könnte so sein. Es ist aber nicht so, weil diese Forschungsdatennutzung so intransparent für die Betroffenen geblieben ist. Sie ist nicht kalkulierbar und schafft deswegen auch nicht das notwendige Vertrauen. Wenn wirklich ganz offensiv Transparenz geschaffen würde – ein differenziertes Zugriffsregime bei der ePA scheint ja jetzt in der Zwischenzeit realisiert zu sein – dann ist das ein ganz wichtiger Aspekt. Darüber hinaus sollte der positive Zweck der Forschung auch sauber herausgestellt werden, und das nicht nur einfach mit dem verbalen Bekenntnis „wir halten den Datenschutz ein und wir sind vertrauenswürdig“, was dann wirklich auch mit guten Argumenten und mit Fakten hinterlegt wird. Dann kann ich mir sehr gut vorstellen, dass das auch in der Öffentlichkeit überzeugt.

Forschung und Patientendaten

Haben Sie einen konkreten Wunsch für eine Maßnahme, die die Akzeptanz für die Sekundärnutzung von Daten befördern könnte?

Thilo Weichert: Was jetzt ein ganz konkreter operativer Wunsch wäre, ist eine Art Daten-Cockpit für Patientinnen und Patienten. Ich wünsche mir, dass das Forschungsdaten-Zentrum mit elektronischen Patientenakten und mit GKV-Daten mit einem Daten-Cockpit versehen wird, wo die Menschen kontrollieren können, nachvollziehen können und entscheiden können, was mit ihren Daten passiert. Ein solcher Daten-Cockpit ist gemäß dem Onlinezugangsgesetz für den Austausch von Registerdaten in Deutschland vorgesehen. Dabei soll es sich um ein Internet-Portal handeln, in dem Betroffene nach einer sicheren Identifizierung und Authentifizierung die Berechtigung erhalten, Datenzugriffe nachzuvollziehen. Ein solches Cockpit im Gesundheitsbereich kann in der Form erweitert werden, dass hierüber nicht nur Informationen – z.B. über Forschungsprojekte und wer davon als Patient betroffen ist – vermittelt werden, sondern dass für diese Wahlmöglichkeiten – also das Erklären von Einwilligungen und Nutzungswidersprüchen – eröffnet werden.


Zur Person: Thilo Weichert ist ein deutscher Jurist und Datenschutzexperte. Er war von 2004 bis 2015 der Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD) und hat sich in dieser Funktion intensiv mit Fragen des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung auseinandergesetzt.

Hinweis: Die in dieser Interviewreihe geäußerten Meinungen und Positionen der Expertinnen und Experten entsprechen nicht zwangsläufig denen der Bertelsmann Stiftung. Zum einen möchten wir mit den Interviews einen breiten Dialog eröffnen. Zum anderen sollen die unterschiedlichen Expertenmeinungen ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Perspektiven und Herausforderungen erzeugen, die eine Transformation des Gesundheitssystems mit sich bringt.