Prof. Dr. Sylvia Thun hat die Mission, durch die Förderung digitaler Gesundheitslösungen einen positiven Wandel im Gesundheitssystem zu bewirken. Wir haben mit der Prof. Direktorin für eHealth & Interoperabilität an der Charité über die Notwendigkeit gesprochen, die Gematik neu auszurichten.

Was macht eine „starke“ digitale Gesundheitsagentur (DiHA) aus?

Prof. Dr. Sylvia Thun: Die Stärke einer digitalen Gesundheitsagentur kann man an drei Aspekten festmachen. Sie setzt zentrale Governance- und Interoperabilitätsvorgaben, die für alle Leistungserbringer und IT-Anbieter verbindlich sind. Sie agiert als Vermittler und Beschleuniger, der IT-Systeme zertifiziert und Pilotprojekte fördert. Und nicht zuletzt bindet sie Stakeholder frühzeitig ein, um Interoperabilitätsvorgaben praxisnah umzusetzen.

Welche Rahmenbedingungen haben Länder mit starken DiHA geschaffen?

Prof. Dr. Sylvia Thun: Länder mit starken Gesundheitsagenturen haben mehrjährige Digitalstrategien, die langfristig Investitionen sicherstellen. In Kanada wurde die digitale Infrastruktur mit jährlich wiederkehrenden Mitteln gestärkt, anstatt punktuelle Förderprogramme aufzulegen.

In der vergangenen Legislaturperiode sah der Entwurf eines Gesundheitsdigitalagentur-Gesetzes die Gematik als unterstützenden Partner bei der Digitalisierung von Versorgungsprozessen vor. Wie würden Sie diese Rolle ausdefinieren?

Prof. Dr. Sylvia Thun: Damit die Gematik eine partnerschaftliche Rolle einnehmen kann, muss sie sich von einer reinen Regulierungseinheit hin zu einer echten Unterstützungsagentur entwickeln. Partnerschaft bedeutet hier:

Ko-Kreation mit Marktakteuren und Industrie

Die Gematik sollte offene Test- und Entwicklungsumgebungen (Sandboxes/ Connect-a-thons) bereitstellen, in denen Industriepartner Interoperabilitätslösungen praktisch erproben können.

Erfolgreiche Modelle, z. B. die „Mon espace santé“-Plattform in Frankreich, sind nicht nur regulatorisch vorgegeben, sondern interdisziplinär mit IT-Anbietern, Krankenkassen und Ärzten erarbeitet worden.

Standard- und Schnittstellenmanagement als Service

Statt „Standardisierungsauflagen“ von oben herab zu erlassen, sollte die Gematik ein kontinuierliches Ökosystem für Standardintegration betreiben.

Dazu gehören Entwicklerportale, offene APIs und technische Hilfestellungen, um neue Anwendungen interoperabel zu machen.

Innovationsförderung durch Referenzarchitekturen

In Kanada gibt die Canada Health Infoway standardisierte Referenzarchitekturen/Implementierungsleitfäden für ePA und E-Rezept heraus, die Unternehmen als Blaupause nutzen können. Eine deutsche Digitalagentur könnte mit Mustervorgaben für IT-Systeme die Integration beschleunigen und Fehlinvestitionen vermeiden.

Digitalisierung im Gesundheitswesen kann auch als Investitionsherausforderung betrachtet werden. Wo sollten hier die Schwerpunkte gesetzt werden?

Prof. Dr. Sylvia Thun: Deutschland muss zentrale Investitionslücken schließen. Das betrifft die nationale Infrastruktur, wo man sich ein Beispiel an Frankreich nehmen kann. Frankreichs Ségur-Programm investiert Milliarden in die Modernisierung der Krankenhaus-IT, um alle Systeme an nationale Standards anzubinden.

Deutschland braucht außerdem eine zentrale Interoperabilitätsplattform mit zentraler Governance (IOP Plattformen auf FHIR) für die Anbindung aller Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken an einheitliche Datenformate (FHIR, HL7).

Neben einmaligen Investitionsprogrammen wie dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) benötigt Deutschland kontinuierliche Finanzierungsmodelle für IT-Wartung, Interoperabilität und Datensicherheit. Ein Modell wäre eine jährliche Digitalpauschale für Krankenhäuser und Praxen und Gelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), um IT-Systeme kontinuierlich modern zu halten.

Wer sollte aus Ihrer Sicht die Gelder bereitstellen?

Prof. Dr. Sylvia Thun: Die Finanzierung sollte aus einem Mix aus öffentlichen Mitteln (Bund, Länder) und privaten Investitionen (Industriepartnerschaften, Krankenkassen) erfolgen.

Eine digitale Versorgungsinfrastruktur ist eine öffentliche Aufgabe, daher braucht es einen klaren Rahmen für nachhaltige, zweckgebundene Digitalfonds.

 

Zur Person: Als Mitglied im Wissenschaftsrat Medizin und Prof. Direktorin für eHealth & Interoperabilität an der Charité Berlin bringt Sylvia Thun umfassende Kenntnisse in der Digitalisierung täglich ein und setzt sie praktisch um. Ihre Mission ist es, durch die Förderung digitaler Gesundheitslösungen einen positiven Wandel im Gesundheitssystem zu bewirken. Mit über sieben Jahren Erfahrung am Berlin Institute of Health und 11 Jahre als Professorin in NRW sowie 7 Jahren im BMG und der Bundesoberbehörde (jetzt BfArM) hat sie die eHealth-Landschaft maßgeblich mitgestaltet und arbeitet kontinuierlich an der Verbesserung der Interoperabilität im Gesundheitswesen.

Ihr Fokus liegt auf der strategischen Entwicklung und Implementierung innovativer eHealth-Projekte, die die Patientenversorgung verbessern. Durch ihre Fachexpertise in Digitaler Medizin und eHealth trägt sie  dazu bei, dass ihre Organisation an der Spitze des medizinischen Fortschritts steht. In Zusammenarbeit mit ihrem Team erarbeitet sie Lösungen, die zur Vernetzung medizinischer Daten beitragen und somit eine bessere und effizientere Patientenbetreuung ermöglichen.

Hinweis: Die in dieser Interviewreihe geäußerten Meinungen und Positionen der Expertinnen und Experten entsprechen nicht zwangsläufig denen der Bertelsmann Stiftung. Zum einen möchten wir mit den Interviews einen breiten Dialog eröffnen. Zum anderen sollen die unterschiedlichen Expertenmeinungen ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Perspektiven und Herausforderungen erzeugen, die eine Transformation des Gesundheitssystems mit sich bringt.

Lesetipp: Was wir bei der Neuausrichtung der Gematik von anderen Ländern lernen können, das haben Dr. Reiner Thiel, Lucas Deimel und Maike Hentges vom Forschungs- und Beratungsunternehmen empirica im Auftrag der Bertelsmann Stiftung untersucht. Die Publikation können Sie kostenfrei herunterladen: Digitale Gesundheitsagenturen: Was können wir von anderen Ländern lernen?