Im Rahmen unserer Interviewreihe sprachen wir mit Dr. Bernhard Gibis von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) über die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und struktureller Herausforderungen plädiert er für eine grundsätzliche Debatte über die zukünftige Gesundheitsversorgung und für eine differenzierte Betrachtung bei der Diskussion über das Tempo von Gesundheitsreformen in Deutschland.


Das Gesundheitssystem steht schon jetzt unter Druck, künftig kommen noch die Herausforderungen durch den demografischen Wandel dazu. Wie kann da die Gesundheitsversorgung noch aufrechterhalten werden?

Dr. Bernhard Gibis: Ich selbst bin Babyboomer, geburtenstärkster Jahrgang. Wenn wir alle mal in Rente gehen und pflegebedürftig werden: Das wird mit dem jetzigen Gesundheitswesen nicht zu schaffen sein. Es geht nur zusammen mit der Zivilgesellschaft, mit anderen Lastenverteilungen und neuen Möglichkeiten der Organisation von Versorgung. Diese Wegdelegation aller Daseinsvorsorgeprobleme in den Medizinbereich, die wir gerade erleben, funktioniert heute schon nicht. Das heißt aber auch, dass die traditionelle Debatte im Gesundheitswesen, nämlich das Verhältnis von ambulanter und stationärer Versorgung, viel zu kurz greift.

Eine gut gemachte Digitalisierung wird helfen können, aber auch nicht alles auffangen. Ich denke da insbesondere an neue, gezieltere und schnellere Zugänge für Versicherte in die Gesundheitsversorgung. Der Patientenservice 116117 steht da erst am Anfang seiner Möglichkeiten. Es bedarf neuer Zuschnitte der Arbeitsteilung im Gesundheitswesen, zwischen Sektoren und Berufsgruppen gleichermaßen und ich fürchte, es wird wahrscheinlich erst ein Tal der Tränen brauchen bis der Gedanke reift, Gesundheit breiter zu definieren und auch Bereiche außerhalb der Sozialgesetzbücher und der Medizinversorgung mitzudenken. Eins ist klar: Fehlende Investitionen in die Daseinsvorsorge einschließlich der Bereiche Bildung und Sozialarbeit lassen sich nicht durch den „Reparaturbetrieb“ Medizin kompensieren.

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Dr. Bernhard Gibis, Leiter des Dezernats Sicherstellung und Versorgungsstruktur bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (Copyright: KBV)

Geht es vor diesem Hintergrund nicht viel zu langsam voran mit Reformen im Gesundheitswesen?

Dr. Bernhard Gibis: Das deutsche Lamento, es geht alles zu langsam und man sei nicht agil genug und das System fährt vor die Wand, gibt es seit mehr als 30 Jahren und wahrscheinlich noch länger. Alle sind immer ganz entsetzt und wissen, wie es besser geht und nur böse Kräfte verhindern das: Das ist fast ein Verschwörungsnarrativ. Wenn ich mir das deutsche Gesundheitssystem so anschaue – und ich habe schon in anderen gearbeitet – muss ich sagen: dies ist nicht das schlechteste der Gesundheitssysteme in unserer Vergleichsgruppe. Es ist nicht so, dass wir vor einem Abgrund stehen, das sollte differenziert betrachtet werden. Es gibt positive Beispiele wie die schnelle Reaktion der Versorgung auf die Corona-Situation. Schauen Sie sich den Arzneimittelsektor an: In kaum einem anderen Land sind Medikamente so schnell auf dem Markt wie in Deutschland und werden dann auch vergleichsweise zeitnah für alle, unabhängig von der jeweiligen Versicherung, Einkommen, Wohnort oder Bildung, zugänglich gemacht.

Überfällige Reformschritte

Und wann geht es langsamer voran?

Dr. Bernhard Gibis: Langsamer geht es immer dann, wenn mehrere Berufsgruppen oder Sektoren betroffen sind, wenn es um die Interaktion verschiedener Akteure geht, um gemeinsame zu erbringende Leistungen. Dann merken wir die Silo-Organisation und die in sich abgeschlossene getrennte Organisation von Berufsgruppen, von Sektoren, von einzelnen Akteuren. Dann dauert es sehr, sehr lange vor allem dann, wenn keine gemeinsam getragenen Ziele formuliert werden. Ein Beispiel: Fachkräfteentwicklung. Es gibt in Deutschland keine übergeordnete Fachkräfte-Planung oder -strategie. Wie viele Pflegekräfte brauchen wir eigentlich? Wie viele Ärzte brauchen wir in den Kliniken? Das sind alles Dinge, die sich aus sich selbst heraus regulieren. Ein aktuelles Beispiel ist die Approbationsordnung der Ärzte. Da sind überfällige Reformschritte drin. Das tritt immer noch auf der Stelle, weil die Länder das Geld nicht aufbringen, um die Reform zu bezahlen, die dann da gemacht werden muss.

Woran liegt das – und ließe sich das Reformtempo erhöhen?

Dr. Bernhard Gibis: Häufig sind Grundgesetz-relevante Faktoren betroffen, die zu ändern wären, um den Prozess zu beschleunigen. Föderalismus zum Beispiel oder die Sektorierung von Daseinsvorsorge-Aufträgen. In anderen Worten: Eine einfache Antwort liegt da nicht auf der Hand. Wir alle wollen möglichst einfache Lösungen. Vermeintlich einfache Lösungen aber setzen sich häufig über Dinge hinweg, die ja bewusst eingerichtet wurden wie beispielsweise den Föderalismus. Und deswegen sind Kompromisse erforderlich. Damit können Sie zwar in der Regel keine populären Thesen raushauen, sondern nur um Verständnis werben, aus welchen Gründen das so geregelt wurde. Das ist mühsam, das ist nervend, aber notwendig.

Was treibt Veränderungen im bestehenden System?

Dr. Bernhard Gibis: Mein Eindruck ist, dass Krisen und Katastrophen mit all ihren Problemen etwas verändern können, und das sehr schnell. Wenn Sie sich anschauen, was in der Corona-Pandemie auf einmal alles möglich war. Der Bewertungsmaßstab ist an manchen Stellen innerhalb von 14 Tagen fundamental geändert worden. Beispiel Videosprechstunde. Ähnliches bewirkt der Fachkräftemangel und da ist die Entwicklung erst am Anfang: Wir erleben heute schon neue Muster der Arbeitsteilung der Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar war. Aus der Not heraus wird manches Gegen- zu einem Miteinander, beispielsweise bei Ärzteschaft und Pflege.

Umsetzung muss sich lohnen

Welche Rolle spielt Vergütung?

Dr. Bernhard Gibis: Das Monetäre ist eminent wichtig. Aber das allein ist nicht ausreichend. Wenn Sie Unsinn finanzieren, merken die Leute das und es führt zu einer völligen Distanzierung vom System. Sie verspielen regelrecht Kredit bei den Beteiligten, wenn sie für das Ausfüllen von Formularen viel Geld bezahlen ohne dass aus dieser Tätigkeit ein erkennbarer Mehrwert für alle Beteiligten entsteht. Die Finanzierung muss sich decken mit einer sinnvollen Intention, und die muss auch vermittelt werden. Ich bin überzeugt, dass richtig gemachte Normsetzung mit entsprechend ausgerichteter Vermittlung von Wissen den Wandel beschleunigen kann. Voraussetzung hierfür ist eine Zielvorstellung, wohin man mit der Gesundheitsversorgung möchte. Und dann die Vergütungssignale so setzt, dass die Umsetzung sich im wahrsten Sinne lohnt.

Was würde das konkret bedeuten?

Dr. Bernhard Gibis: Ein Beispiel aus dem ambulanten Bereich, den ich besser überblicke als den stationären Bereich. Die Leistungserbringung im Team, die immer wichtiger und bestimmender wird, wird bislang nach wie vor in den Zulassungs- und Vergütungsnormen eher toleriert als dass sie diese ermöglichen oder gar fördern würden. Konkret hieße dies beispielsweise die Schaffung von Möglichkeiten, sich für eine Leistungserbringung im Team mit entsprechend vorgesehen Zulassungs- und Vergütungsmöglichkeiten entscheiden zu können. Dabei würde ein ärztlich geleitetes Team möglich und finanziert – nicht nur eine Person, sondern ein Team mit unterschiedlichen Qualifikationen und eigenen Zuständigkeiten – in dem Rollenteilungen und Kompetenzen geklärt sind. Solche Versorgungsangebote können flexibler auf die ständig steigende Nachfrage reagieren als dies z. B. Einzelpraxen können.


Zur Person: Dr. Bernhard Gibis leitet das Dezernat Sicherstellung und Versorgungsstruktur bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Mit seiner Expertise für Fachkräftesicherung, Gesundheitssystemsteuerung und einem Schwerpunkt für kooperative Versorgungsformen setzt er sich intensiv mit den Herausforderungen und Chancen im deutschen Gesundheitssystem auseinander.

Hinweis: Die in dieser Interviewreihe geäußerten Meinungen und Positionen der Expertinnen und Experten entsprechen nicht zwangsläufig denen der Bertelsmann Stiftung. Zum einen möchten wir mit den Interviews einen breiten Dialog eröffnen. Zum anderen sollen die unterschiedlichen Expertenmeinungen ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Perspektiven und Herausforderungen erzeugen, die eine Transformation des Gesundheitssystems mit sich bringt.