Die demografische Entwicklung sorgt dafür, dass die Zahl der Fachkräfte wie Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachpersonen und medizinische Fachangestellte im Verhältnis zur Zahl der Patientinnen und Patienten nie wieder so hoch sein wird wie heute. Die Lage ist angespannt, Versorgungsengpässe sind bereits jetzt allgegenwärtig. Besonders besorgniserregend ist die enorme Belastung des Personals.
Inmitten dieser Krise ist Künstliche Intelligenz (KI) gleichermaßen eine Verheißung wie durchaus realistische Möglichkeit, die dringend benötigte Unterstützung zu leisten, die das Personal entlastet und die Qualität der Patientenversorgung verbessert.
Wir, das Expertennetzwerk „30 unter 40“ der Bertelsmann Stiftung, haben diese vielversprechende Möglichkeit aufgegriffen und in einem Workshop diskutiert, wie KI tatsächlich zur Entlastung der Beschäftigten im Gesundheitswesen beitragen kann. Durch den Austausch führte das FAS Research Institute. Statt herkömmlicher Methoden kam dabei eine Online-Plattform für kollaborative Entscheidungsprozesse zum Einsatz, die uns dabei half, eine strategische Lagebildanalyse zu erstellen. Folgendes kam dabei heraus:
Fünf zentrale Einsatzbereiche von KI
Wir sind mitten im Hype: die hohen Investitionen in KI-Infrastruktur (bspw. Grafikchips), KI-Modelle und Trainingsdatensätze überbieten sich fast täglich [1][2]. Aber wo können KI-Anwendungen Beschäftigte im Gesundheitswesen entlasten? Die folgenden fünf Bereiche sehen wir ganz vorne:
- Automatisierte Dokumentation und Verwaltung: Effizienzsteigerung und Zeitersparnis
Eines der größten Entlastungspotenziale liegt in der automatisierten Dokumentation und Verwaltung, denn diese Prozesse können erheblich effizienter gestaltet werden und zu einer deutlichen Zeitersparnis für Gesundheits- und Pflegepersonal sowie Verwaltungskräfte führen.
- Patientenmonitoring und -management: Präzisere Diagnosen und erhöhte Sicherheit
KI-Technologien können insbesondere in der Bildgebung und Datenanalyse eingesetzt werden. Sie ermöglichen präzisere und schnellere Diagnosen sowie ein kontinuierliches Patientenmonitoring, was Arbeitsbelastung reduziert.
- Entscheidungsunterstützung: Schnellere und genauere medizinische Entscheidungen
Triage und Medikationsanalysesysteme ermöglichen schnellere und präzisere medizinische Entscheidungen, verbessern die Behandlungsqualität und entlasten das Personal durch fundierte Empfehlungen.
- Patientenkommunikation: Effiziente Ferndiagnosen und Beratungen
KI kann auch in der Patientenkommunikation wertvolle Dienste leisten. Chatbots und virtuelle Konsultationen ermöglichen effiziente Ferndiagnosen und Beratungen, erleichtern die Interaktion und geben schnelle Antworten auf häufige Fragen.
- IT-Infrastruktur und Datenmanagement: Verbesserte Datenqualität
KI kann dazu beitragen, unstrukturierte Daten zu strukturieren und die Datenqualität zu erhöhen. So werden bessere Auswertungen möglich und stehen dann in verschiedenen Anwendungsfeldern für Automatisierungen zur Verfügung.
Die Ergebnisse der Potenzialanalyse des Netzwerks „30 unter 40“ stimmen mit einer aktuellen Literaturstudie des Instituts für Innovation + Technik (iit) für die Bertelsmann Stiftung überein. Die Untersuchung zeigt, dass KI-Systeme aufgrund ihrer Reife und des geringen Patientenrisikos schon heute erfolgreich für Verwaltungs-, Dokumentations- und ausgewählte Diagnoseaufgaben eingesetzt werden können. Besonders diskutiert wurde die potenzielle Zeitersparnis, die mit der Nutzung einhergehen könnte – doch bisher fehlen hier die empirischen Belege, dass die Zeitersparnis auch wirklich zu Entlastung führt und nicht durch nachrückende Aufgaben verpufft.
Erfolgsfaktoren für den Einsatz von KI zur Entlastung
Vielversprechende Anwendungsfelder gibt es also zuhauf. Doch wie lassen sich diese Ideen in praktische Anwendungen verwandeln, die den Alltag in Kliniken, Praxen und Pflegeinrichtungen unterstützen?
Das deutsche Gesundheitssystem hat komplexe Strukturen und Rahmenbedingungen. Deshalb hat das Netzwerk untersucht, welche Erfolgsfaktoren entscheidend sind, damit KI echte Entlastung und Verbesserungen bringt. In einer System- und Wirkungskettenanalyse wurden 12 Faktoren identifiziert und analysiert. Dabei zeigte sich, dass die Faktoren zusammenhängen, direkt oder indirekt auf den entlastenden Einsatz von KI-Anwendungen wirken und in unterschiedlichem Maße von der Erfüllung der vorherigen Erfolgsfaktoren abhängen. Entlang ihres Wirkungsgrades wurden die Erfolgsfaktoren in vier Kategorien eingeteilt: (1) „Randbedingungen“, (2) „Enabler“, (3) „Game Changer“ sowie (4) „Faktoren der letzten Meile“, die stark davon abhängen, wie sich die anderen Faktoren im System entwickeln. Das systemische Lagebild (Abbildung 1) zeigt, wie sich die Erfolgsfaktoren gegenseitig bedingen und hilft, den Weg zur erfolgreichen Integration von KI im Gesundheitswesen besser zu verstehen und zu navigieren.
- Die Randbedingungen (Boundary Conditions) bilden zusammen mit den gesetzlichen Grundlagen den ersten Erfolgsfaktor, der erfüllt sein muss, damit KI entlastend eingesetzt werden kann. Seine Erfüllung bietet die Grundlage für die Ermöglichung der anderen Faktoren.
- „Enabler“ sind Faktoren, die im Spielfeld, das von den Randbedingungen aufgespannt wird, die Voraussetzung schaffen, dass KI-Anwendungen effektiv eingesetzt werden können. Es wurde festgestellt, dass es wichtig ist, dass sich Akteure untereinander austauschen und zu wesentlichen KI-Zielen übereinkommen. Damit dies gelingt, bedarf es einer gemeinsamen Koordination. Standardisierung im Sinne von syntaktischer und semantischer Interoperabilität wurden ebenso diskutiert wie die organisatorische Klärung von Prozessen und Rollen der Anwendenden oder (finanzielle) Anreizsysteme und IT-Infrastruktur. Eine flächendeckende IT-Infrastruktur der Leistungserbringenden, mit der Daten elektronisch erfasst und institutions- und sektorenübergreifend übermittelt werden können, ist wesentlicher Faktor. Eine strukturierte Befundung sollte hier eine gute Datenqualität ermöglichen.
- „Game Changer“ sind Faktoren, die dazu beitragen, dass KI-Anwendungen Wirkung entfalten. Damit Entlastung durch KI-Systeme ankommt, müssen sich erfolgreiche einzelne KI-Anwendungen (bspw. über Plattformen) auch großflächig einsetzen lassen, um Entlastung übergreifend zu ermöglichen.
- Die oben genannten Faktoren beeinflussen jene der „letzten Meile“. Hier zahlen klare Nutzenversprechen, eine gezielte Patientenperspektive sowie Partizipation und Akzeptanz von KI-Anwendungen bei Beschäftigten direkt auf einen entlastenden Einsatz von KI-Systemen ein.
Das iit konnte in der o. g. Literaturstudie aufdecken, dass klassische „Enabler“-Faktoren wie KI-bedingte Veränderungen in der Organisation und Aufteilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen in den untersuchten Studien oft nicht thematisiert werden. Dies verdeutlichen auch die hier identifizierten Faktoren: Es geht nicht nur um technologische Möglichkeiten, sondern auch um das Zusammenspiel von Politik, Infrastruktur, Prozessen und Organisation sowie den Menschen, die diese Technologien nutzen.
Handlungsfelder
Doch wo sollen wir am besten ansetzen, um dieses komplexe Feld zu unterstützen? Wo sind die Hebel, die Erfolgsfaktoren zu beeinflussen besonders groß?
Damit der Nutzen sichtbar und die entlastenden Effekte spürbar werden, müssen zunächst Rahmenbedingungen und Enabler adressiert werden.
Unsere Empfehlungen betreffen drei Bereiche:
- Regulatorische Hürden identifizieren und beseitigen,
- Use Cases und Good Practices bündeln und verbreiten, um Prozessoptimierungsmöglichkeiten zu sammeln und für verschiedene Bereiche vorzustellen,
- Netzwerke aufbauen, um systemischen Herausforderungen zu begegnen, ein einheitliches Verständnis für KI-Begriffe und Einsatz zu entwickeln und eine gemeinsame Zukunftsvision für den entlastenden KI-Einsatz zu entwickeln.
KI-Anwendungen sollten nicht nur ein vollmundiges Versprechen für überlastetes Gesundheitspersonal sein, sondern die Arbeit wirklich verbessern. Gelingt es, diese Hebel in Gang zu setzen, schaffen wir die Basis für eine breite Anwendung und KI kann zum echten „Game-Changer“ im Gesundheitswesen werden.
[1] https://ingestai.io/blog/ai-investment-landscape
[2] https://nvidianews.nvidia.com/news/healthcare-generative-ai-microservices