In unserer Studie #SmartHealthSystems analysieren wir 17 Länder zum Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Fünf Länder davon haben wir bereist – und nehmen diese genauer unter die Lupe. Wir fragen nach politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren sowie Hindernissen für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie. Die vollständigen Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog. Unsere Reihe starten wir mit Dänemark und dem nationalen Gesundheitsportal sundhed.dk.
Dänemark investiert gern in neue Wege. Beim Thema Infrastruktur etwa: Breit angelegte Autobahnen für Fahrräder sind längst Bestandteil vieler Pendler-Städte. Oder beim Thema Rundfunkgebühren: Jüngst hat die Regierung bekanntgegeben, diese abschaffen zu wollen. Stattdessen sollen die öffentlich-rechtlichen Sender künftig über Steuern finanziert werden.
Auch im Gesundheitssektor hat Dänemark früh Innovationen gefördert. Sehr früh. Bereits Mitte der neunziger Jahre initiierte die nationale Regierung gemeinsam mit den Regionen, Kommunen sowie mit privaten Unternehmen ein Projekt namens „MedCom – The Danish Healthcare Network.“ Dieses hatte zum Ziel, nationale Standards für die Datenkommunikation zwischen den Leistungserbringern im Gesundheitswesen zu entwickeln.
Wie wegweisend dieses Investment von einst sein sollte, belegen beeindruckende Statistiken von heute: Rund 1,7 Millionen Dänen – also mehr als ein Viertel der dänischen Gesamtbevölkerung – besuchen jeden Monat sundhed.dk. Die Website, die auf Dänisch einfach „Gesundheit“ heißt, ist aber viel mehr als nur eine URL mit Informationen zu dem Thema. Sundhed.dk ist das nationale Portal, das für alle dänische Bürger Anlaufstelle Nummer eins in allen Bereichen ihrer Gesundheit sein soll.
Eine nationale E-Health-Strategie und einheitliche Standards für den Erfolg
Mit der Geburt erhält jeder Däne eine persönliche Identifikationsnummer. Über diese kann er sich in den Bereich „Mein Gesundheitszustand“ bei sundhed.dk einloggen. Dort angemeldet, erhält er einen Überblick über seine komplette Krankengeschichte: Diagnosen, Behandlungsverläufe, Operationen, Entlassungsbriefe, Medikationspläne, Röntgenbefunde, Scans. Überweisungen an den Facharzt, Impfdaten, Laborwerte. Sämtliche Informationen aus elektronischen Krankenakten kann der Patient über das Portal zentral abrufen.
Und nicht nur das: Über sundhed.dk kann sich der Patient auch zur Organspende registrieren, Arzttermine vereinbaren, ein neues Rezept beantragen, sich mit anderen Betroffenen austauschen, oder sich allgemein fundiert über Gesundheit, Krankheiten und deren Diagnose und Behandlung informieren – seit jüngstem auch in immer mehr Anwendungen via App direkt per Smartphone.
Mit der Zustimmung des Patienten können auch der Hausarzt oder der Apotheker auf die dort gespeicherten Patientendaten zugreifen. Diese können sich im Portal auch mit anderen Gesundheitsversorgern austauschen und aktuelle, evidenzbasierte Fachinformationen einholen. Zudem nutzen sie das Portal für die Berechnung bzw. Abrechnung von Gesundheitsdienstleistungen.
Seit dem Launch in 2003 steigen die Zugriffszahlen auf das nationale Portal kontinuierlich. Tatsächlich geben Umfragen zufolge 24 % der Dänen an, dass sich der Behandlungsverlauf durch die Nutzung des Portals verbessert habe. 41 % sagen, sie hätten ein besseres Verständnis ihrer Krankheit gewonnen. Und nationale Evaluierungen zeigen ebenfalls positive Ergebnisse: Die Klinikausgaben sind unter Kontrolle, nach Angaben von Sundhed ist sogar die Todesfallrate gesunken.
Für viele andere Länder gilt das dänische Gesundheitsportal als Best-Practice-Vorbild, wie eine moderne Informations- und Kommunikationsinfrastruktur entlang des Behandlungspfads aussehen kann. Die internationale Unternehmensberatung und Marktforschungsfirma Gartner etwa bezeichnete sundhed.dk 2007 als weltweit bestes Beispiel für Public Health.
Auch Deutschland plant ein nationales Gesundheitsportal , steht dabei aber noch ganz am Anfang (siehe hierzu unsere 10 Thesen im Blog-Beitrag). Dabei ist die deutsche Bundesregierung an dem Geheimnis des international anerkannten Erfolgs im Bereich E-Health Dänemarks schon seit längerem interessiert: 2013 gab das Bundesgesundheitsministerium eine Analyse (pdf) dazu in Auftrag. Fazit der Untersuchung: Neben einer nationalen E-Health-Strategie, die Dänemark bereits seit den Neunzigerjahren verfolgt und die auch von allen Akteuren der Digitalisierung im Gesundheitswesen unterstützt wurde, war insbesondere die Entwicklung von einheitlichen Standards für den Datenaustausch durch MedCom und die Kommunikation zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen ein zentraler Erfolgsfaktor für sundhed.dk.
Die schrittweise Entwicklung eines komplexen Geflechts
In das Portal fließen die Daten aus verschiedensten Quellen ein, die nach und nach daran angeschlossen wurden. Im Laufe der Jahre hat Dänemark somit eine Informations- und Kommunikationsinfrastruktur aufgebaut, die eine Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure entlang des Behandlungspfads ermöglicht. Dabei werden die Daten der Patientenakte – wie auch in der deutschen Telematikinfrastruktur vorgesehen – dezentral an unterschiedlichen Stellen gespeichert. Sundhed.dk bildet dann jene Plattform, die diese Daten aus mehr als hundert verschiedenen Datenquellen für den Patienten oder die Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken als Schnittstelle zugänglich macht.
Was so einfach klingt, ist in Wahrheit ein komplexes Geflecht aus verschiedenen Akteuren und Dienstleistern sowie Datenbanken, Gesundheitsregistern und IT-Systemen. Begonnen hat der Aufbau dieser Struktur vor gut zwei Jahrzehnten: Betrieben wird das sundhed.dk zugrundeliegende Danish Healthcare Data Network von MedCom. Die Non-Profit-Organisation kümmert sich im Auftrag des Gesundheitsministeriums um die Entwicklung von Standards für elektronische Patientenakten, die Hersteller von Praxisverwaltungs-Software in ihre Systeme integrieren.
Die frühe Entwicklung von Standards, ein langer Atem und das Vertrauen der Dänen
Gegründet wurde MedCom 1994 mit Beginn der nationalen E-Health-Strategie. Zu jener Zeit, als man sich noch über krächzende Modems ins Internet 1.0 einwählen musste, führten die ersten dänischen Krankenhäuser bereits elektronische Patientenakten. Damals bestand die Aufgabe von MedCom vor allem darin, für die gängigsten textbasierten Nachrichtentypen wie Arztbriefe, klinische Reports oder Laborbefunde Interoperabilitätsstandards zwischen den öffentlichen Krankenhäusern, Arztpraxen und Apotheken zu definieren.
Allerdings nutzte zunächst kaum einer die neuen Standards: Im ersten Jahr nach Einführung wurden gerade einmal wenige tausend Nachrichten ausgetauscht. Aber anstatt das Projekt für gescheitert zu erklären, entschied sich das Gesundheitsministerium, MedCom zu verlängern und in die Weiterentwicklung dieser Standards zu investieren.
Zwar dauerte es knapp zehn Jahre, bis diese sich durchsetzen konnten, inzwischen aber dürfte Dänemark weltweit einer der kohärentesten digitalen Infrastrukturen für den elektronischen Austausch von Gesundheitsdaten haben. Und auch hier zeugen die Statistiken von dem Erfolg: Mittlerweile werden mehr als 60 Millionen Dokumente jährlich elektronisch über das Health Data Network sektorenübergreifend ausgetauscht. Wie etwa Laborergebnisse: Mindestens 96 % aller Laborergebnisse werden elektronisch verschickt. Der Anteil der Rezepte, die elektronisch an Apotheken versandt werden, beträgt mindestens 85 %. Und auch so gut wie alle Arztbriefe vom Krankenhaus werden elektronisch erstellt (99 %). Insgesamt ist seit vielen Jahren sundhed.dk das meist genutzte Digital-Tool unter den Ärzten.
Dass dieser sukzessive Ausbau für den landesweiten medizinischen Datenverkehr überhaupt möglich war, verdankt das Portal insbesondere der Tatsache, dass die fünf dänischen Großregionen die Plattform zu 80 % mitfinanziert haben. Der Rest des Budgets für sundhed.dk stammt vom Ministerium und den Kommunen. Auf diese Weise stellte die Regierung sicher, dass alle Gesundheitsdirektionen der fünf Regionen ein Interesse daran haben, die Plattform gemeinsam zum Erfolg zu führen. Diese entscheiden auch, welche Systeme für elektronische Patientenakten sie implementieren. Doch obwohl nur zwei der fünf Regionen das gleiche System verwenden, sorgt das durch Regionen, Regierung und Ärztevertretern besetzte nationale E-Health-Board dafür, dass verpflichtende Standards den Datenaustausch zwischen Regionen und sundhed.dk ermöglichen.
Aber auch die Bevölkerung hat dazu beigetragen, den Datenaustausch zwischen den Behörden zu erleichtern: Stärker ausgeprägt als in Deutschland gibt es in Dänemark allgemein eine Kultur des Vertrauens in die Kompetenz des Staates, was auch den Umgang mit persönlichen Daten betrifft. Umfragen zufolge können sich 80 % der Dänen vorstellen, noch mehr Daten von sich preis zu geben, als sie es ohnehin schon seit Langem tun. Seit 1977 gehört etwa die Registrierung von Diagnosen, Behandlungen, Krankenhausaufenthalten oder Patientenüberweisungen zum Alltag des dänischen Gesundheitssystems. Für dänische Patienten sind elektronische Patientenakten längst kein Novum mehr.
Auch ein gutes System hat noch Verbesserungspotenzial
Was über die vielen Jahre zu einem Erfolgsmodell geworden ist, erlebt natürlich auch seine Schattenseiten: Inzwischen ist das nationale Portal zu einem großen Tanker gewachsen, der sich nur mühselig manövrieren lässt. Teile der technischen Struktur beziehungsweise der Standards stammen noch aus den Neunzigerjahren. Auch die Zahl der einzelnen Standards steigt ständig. Diese für alle fünf Großregionen, 98 Gemeinden und alle Ärzte zu überholen, käme einem Kraftakt gleich. Auch die Umfänge der Patientenakten wachsen zu immer größeren Datenhaufen an. Bei einem chronisch kranken älteren Patienten kann eine Akte mit all den Untersuchungsergebnissen und Notizen der Ärzte gut und gerne mal 500 Seiten umfassen.
Welcher Patient aber liest sich das alles durch? Und auch für Ärzte besteht zum einen zunehmend die Schwierigkeit darin, alle bereits erfassten Daten zu sichten, um sich einen Überblick einer komplizierten Krankengeschichte zu verschaffen. Schnell wird dann lieber eine neue Untersuchung des Patienten angeordnet, bevor man stundenlang die Akten nach dem entsprechenden Ergebnis durchforstet. Zum anderen beklagen viele Ärzte, die strikte Dokumentationspflicht, die der dänische Gesetzgeber vorschreibt. Sie führe häufig zu einer Überbelastung von medizinischem Personal und sei auch an vielen Stellen alles andere als sinnvoll und praktikabel.
Natürlich gibt es auch Kritik am Prinzip des gläsernen Gesundheitssystems – häufig sind es die Hausärzte, die ihre Bedenken äußern und als Argument zum Beispiel die Schweigepflicht ins Feld führen. Soll ein Arzt wirklich jedes intimste Detail, das ihm sein Patient anvertraut hat, digital in der Akte notieren und somit für andere Kollegen zugänglich machen? Und was ist, wenn er ein Detail übersieht, das in der Akte vermerkt war? Kann er dann möglicherweise juristisch dafür belangt werden?
Noch sind Hausärzte zurückhaltend, was die Nutzung von sundhed.dk betrifft. Dabei haben Patienten seit 2013 über die Plattform theoretisch auch Zugriff auf die Daten der sogenannten „P-Journale“. Das sind jene elektronischen Patientenakten, die von Hausärzten und anderen medizinischen Dienstleistern wie etwa Physiotherapeuten, Reha-Einrichtungen oder städtischen Pflegediensten erstellt werden. Zwar nimmt die Zahl der Ärzte zu, die auch P-Journale zur Verfügung stellen – aber nur langsam. Ein Ziel in der aktuellen Version der nationalen E-Health-Strategie Dänemarks lautet unter anderem deshalb, den Zugang zu diesen P-Journalen zu erhöhen.
Gut 45 Seiten umfasst das aktuelle öffentliche Dossier der dänischen Regierung über die digitale Strategie 2018-2022 mit dem Titel „A Coherent and Trustworthy Health Network for All“. Der verbesserte Zugang zu noch mehr Daten und die Verbesserung der Usability des Portals für die Patienten sind nur einige der Punkte, die man in Dänemark in naher Zukunft angehen will. Aber auch wenn noch viel Arbeit ansteht – gegenüber anderen Ländern hat Dänemark in Sachen E-Health schon jetzt einen gewaltigen Vorsprung.
Hinweis: Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Dr. Cinthia Briseño entstanden. Frau Briseño unterstützt die Vorort-Recherchen zur Studie zu #SmartHealthSystems mit journalistischen Blog-Beiträgen zu den verschiedenen Ländern.
Die Studie führt die empirica – Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durch.
Verfolgen Sie die Eindrücke unserer Länderreisen zur Studie bis Ende 2018
Die vollständigen Ergebnisse unserer internationalen Vergleichsstudie werden wir im November 2018 vorstellen. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse und gute Beispiele aus anderen Ländern hier bei uns im Blog.
Wenn Sie diese Einzelauswertungen der Studie und die Veröffentlichung nicht verpassen wollen, empfehlen wir die Anmeldung zu unserem E-Mail-Newsletter: