Die Corona-Pandemie hat der Telemedizin viel Aufwind beschert. Dabei sind Videosprechstunde und andere telemedizinische Dienstleistungen in vielen Ländern schon längst fester Bestandteil der Regelversorgung und viel mehr im Alltag integriert als hierzulande. Was kann Deutschland von diesen Ländern lernen? Es zeigt sich, dass Deutschland noch ein klares Zielbild fehlt, wie Telemedizin zu einer verbesserten Regelversorgung beitragen kann und wo sie sich geographisch konzentrieren soll.


Während der Corona-Pandemie jagte eine Hiobsbotschaft die nächste. Doch in manchen Bereichen brachte sie auch gute Nachrichten hervor: „Covid-19 als Katalysator für die Videosprechstunde.“ „Pandemie sorgt für einen Schub in der Telemedizin.“ So, oder so ähnlich lauteten einige Medien-Schlagzeilen.

Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) reagierte rasch auf die Entwicklungen der Corona-Krise. Nachdem der Ärztetag bereits 2018 das Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung gelockert und somit den Weg für die Videosprechstunde frei gemacht hatte, hob im März 2020 die KBV zudem die Begrenzungsregelungen für Videosprechstunden auf. Zuvor war es Ärzten und Psychotherapeuten lediglich gestattet, pro Quartal maximal jeden fünften Patienten ausschließlich per Video zu behandeln.

Angesichts des sich ausbreitenden Virus sollten Patienten nur noch in dringenden Fällen die Praxen aufsuchen. Doch ist die Pandemie tatsächlich ein Durchbruch für die Videosprechstunde? Erste Umfragen sind ernüchternd: Dem ePatient Survey mit 9.700 Befragten zufolge bleibt die Nachfrage bisher weiterhin verhalten. Zudem variiert sie regional stark und wird dort kaum genutzt, wo sie am dringendsten notwendig wäre, nämlich im ländlichen Raum.

Im Gegensatz zu Deutschland gehört die telemedizinische Regelversorgung in einigen anderen Ländern bereits zum Alltag. Wie funktioniert Telemedizin im Ausland? Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat die Bonner Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung empirica, basierend auf der Studie #SmartHealthSystems, den Einsatz und die Nutzung von Telemedizin in 17 Ländern systematisch analysiert.

Viele Herausforderungen wurden andernorts bereits gemeistert

Während Deutschland noch vor einigen Herausforderungen steht, wie etwa dem mangelnden flächendeckenden Breitbandausbau, der Schulung von medizinischem Fachpersonal, der mangelnden Erstattungsfähigkeit der Leistungen sowie der Entwicklung von patientenzentrierten Lösungen, haben manche Länder offenbar Wege gefunden, diese Hürden zu meistern.

Die Frage ist: Wie ist der Stand der Integration telemedizinischer Anwendungen in die Regelversorgung? Um einen vergleichenden Länderüberblick zu schaffen, wurden in der #SmartHealthSystems-Sonderauswertung folgende Gesichtspunkte als Matrix zugrunde gelegt:

  • landesweite Pläne zur strategischen Verankerung von Telemedizin
  • gesetzliche Bedingungen und technische Verfügbarkeit von Telekonsultationen
  • technische Verfügbarkeit von Arzt-zu-Arzt-Telekonsilen sowie Fernüberwachung von Patienten zu Hause oder im Alltag

Die Analyse zeigt: Telemedizin ist in Dänemark, Estland, den Niederlanden, Portugal und Schweden ein fester Bestandteil der gesundheitspolitischen Planung und der Regelversorgungskonzepte. Während die anderen Länder Telemedizin zumindest teilweise in politischen Strategiepapieren aufführen, sie aber nicht flächendeckend systematisch einsetzen, verfügen Australien, Belgien, Polen und die Schweiz über keine solchen Pläne. In Dänemark, Israel und den Niederlanden ist die Videosprechstunde darüber hinaus bereits fester Bestandteil der Regelversorgung.

Im Gegensatz zu digitalen Sprechstunden zwischen Arzt und Patient, sind Telekonsile, also eine digitale Arzt-zu-Arzt-Beratung, um sich beispielsweise über Befunde eines Patienten auszutauschen, stärker verbreitet als die Videosprechstunde: In sechs Ländern kann dieser Teil der Regelversorgung abgerechnet werden, in Italien und Portugal gibt es Pilotprojekte. Die Fernüberwachung von Patienten, beispielsweise von Vitalparametern über Wearables bei Senioren oder chronisch Kranken zu Hause, gehört dagegen bisher nur in den Niederlanden zur allgemeinen Gesundheitsversorgung. In Deutschland, Dänemark, Italien, Kanada und Spanien gibt es aber Projekte und Implementierungen im kleinen Umfang.

Fallbeispiele aus Israel, Schweden, Schweiz und Spanien

Die gesetzlichen und technischen Gegebenheiten bieten in einigen Ländern gute Voraussetzungen für erfolgreiche Vorbilder der telemedizinischen Regelversorgung.

Beispiel Israel: Das MOMA, ein multidisziplinäres Gesundheitszentrum der Gesundheitspflegeorganisation Maccabi HealthCare Services, betreut Patienten mit komplexen Erkrankungen wie Diabetes, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), chronische Herzinsuffizienz oder Krebs vor allem über telemedizinische Leistungen: Rund um die Uhr steht den Patienten bei MOMA eine Telefon- und Videohotline zur Verfügung, über die sie Kontakt zum Pflegepersonal aufnehmen können. Über eine Kamera kann beispielsweise eine Pflegefachkraft die Wunde des Patienten begutachten oder ihn beim Messen des Blutdrucks oder beim Spritzen von Insulin unterstützen.

Beispiel Schweden: Dort können Ärzte im Allgemeinen für eine Telekonsultation den gleichen Betrag abrechnen wie für einen Praxisbesuch. Gemeinsam mit ihrem Hausarzt haben Patienten aus ländlichen Regionen zum Beispiel die Möglichkeit, per Videoschaltung den weiter entfernten Spezialisten zu kontaktieren. Als nationales System für den gesamten Austausch von Gesundheitsdaten dient Sunjet, ein Breitbandnetzwerk, das unabhängig von der Internetleitung agiert. Telemedizinische Videokonferenzen, Teleradiologie, Datenbankzugriffe, sicherer E-Mail-Verkehr und andere Anwendungen laufen darauf. Die Infrastruktur ist in allen 21 Regionen Schwedens installiert. In einigen ländlichen Provinzen ist die Video-Konferenztechnologie schon seit gut zwei Jahrzehnten ein zentraler Bestandteil der umfassenden Tele-Health-Aktivitäten.

Beispiel Schweiz: Ärzte dürfen dort frei wählen, über welchen Kommunikationskanal sie Patienten kontaktieren oder Daten übermitteln, solange der Datenschutz gewährleistet ist. Ein Schweizer Unternehmen hat sich auf Telemedizin spezialisiert und betreibt eine sog. Tele Clinic, ein großes ärztliches Zentrum, das ausschließlich auf Telekontakt beruht. Patientenkontakt ist rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche möglich. Die mehr als 300 Mitarbeiter verteilen sich weltweit auf fünf Standorte. Partner des Unternehmens sind 34 Krankenversicherungen, womit ein Großteil der Schweizer Bevölkerung Zugang zu den verschiedenen Gesundheitsdiensten erhält.

Beispiel Spanien: Eine Telemedizinische Klinik in Barcelona bietet Kooperationen auch mit anderen Ländern an und unterstützt zum Beispiel Hausärzte in entlegenen Regionen Schwedens bei ihren Diagnosen. Zudem hat die Klinik ein Zentrum in Sydney, Australien, um Bereitschaftsdienste, also Nacht- und Notfalldienste für europäische Krankenhäuser bereitzustellen. Auch Telepathologie, Mammografie- oder MRT-Dienstleistungen oder virtuelle Arzt-Konferenzen bietet die TMC an. Auch Norwegen und Dänemark kooperieren bereits mit der Klinik. Einem Radiologen im dänischen Nordsjællands Hospital in Hillreød bleibt somit der Nachtdienst erspart, während ein Kollege in Sydney sich um die dringenden Patienten kümmert, die nachts in Hillerød gescannt werden.

Was Deutschland von anderen Ländern lernen kann

Die Beispiele aus anderen Ländern zeigen, wie sowohl einfache als auch komplexere telemedizinische Dienstleistungen dazu beitragen können, die Versorgungslandschaft zu ergänzen und Patienten den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erleichtern. Um das zu ermöglichen, kann Deutschland verschiedene Aspekte vorantreiben – insbesondere auch im Hinblick auf die Versorgung ländlicher Regionen:

  • Durch gemeinsame Video-Konsultationen in Praxen niedergelassener Ärzte mit weiter entfernten Spezialkliniken oder Fachärzten wäre weniger mobilen oder finanziell schlechter gestellten Patienten häufig schon geholfen.
  • Wo Landärzte fehlen, kann sich der Aufbau von lokalen Telemedizin-Zentren lohnen, die mit medizinischen Fachangestellten besetzt sind, um die begrenzte Verfügbarkeit von Ärzten auf dem Land zu einem gewissen Grad auszugleichen.
  • Besonders die von Personalmangel betroffenen Krankenhäuser könnten von einer Entlastung durch telemedizinische Dienstleister profitieren. Die freigesetzte Zeit kann anderen Versorgungsaufgaben oder einer intensiveren Patientenbetreuung zugutekommen.
  • Die infrastrukturellen Voraussetzungen müssen geschaffen werden. Dazu zählen der Breitbandausbau und die Anbindung weiterer telemedizinischer Anwendungen an die Telematikinfrastruktur.

Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz und dem Digitale-Versorgung-Gesetzt ist die deutsche Politik einen Schritt in die richtige Richtung gegangen und zeigt sich offen gegenüber den technischen Entwicklungen und Möglichkeiten. Dennoch fehlt ein klar formuliertes Zielbild, wie Telemedizin zu einer verbesserten Regelversorgung beitragen und wo sie sich geographisch konzentrieren soll. Im Zentrum der Zielformulierung sollte eine Frage stehen, über die sich die relevanten Akteure gemeinsam austauschen müssen: Welche Rolle soll die Telemedizin mit Hinblick auf die künftigen Herausforderungen im Gesundheitswesen spielen?

 


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