In unserer Studie #SmartHealthSystems analysieren wir 17 Länder zum Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Fünf Länder davon haben wir bereist – und nehmen diese genauer unter die Lupe. Wir fragen nach politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren sowie Hindernissen für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie. Die vollständigen Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog. Unser zweiter Bericht aus Israel macht deutlich, wie es einem kleinen Land gelingt, Innovationen effektiv in die Regelversorgung zu übertragen. Beispiel: Telemedizin.
Ein Blick nach Israel ist wie ein Blick in eine ferne Zukunft – zumindest, wenn man sich den Bereich E-Health anschaut. Dort sind digitale Lösungen schon jetzt Alltag, die in Deutschland in frühestens fünf oder zehn Jahren flächendeckend Teil des Versorgungsalltags sein könnten. Das israelische Gesundheitssystem dagegen ist bereits heute nahezu vollumfänglich digital: Patientendaten werden seit fast zwei Jahrzehnten digital erfasst. Und über das Smartphone kann jeder Patient in Israel auf seine elektronischen Gesundheitsakten zugreifen, ganz gleich, ob es sich um Laborergebnisse handelt, oder um die letzte Entlassung aus dem Krankenhaus.
Dass der Transfer von Innovationen in die Regelversorgung so weit vorangeschritten ist, liegt zum einen an der stark ausgeprägten Innovationskultur Israels – jenem Land, das auch gern als Start-up-Nation bezeichnet wird. Zum anderen bietet die Struktur des Gesundheitssystems einen großen Freiraum für Innovation. Neben dem Gesundheitsministerium gibt es in Israel vier HMOs („Health Maintenance Organizations“), die nicht nur eine Krankenversicherung, sondern jeweils auch eine breite Palette an Gesundheitsdienstleistungen anbieten, darunter auch eigene Apotheken oder Krankenhäuser. Nahezu jeder israelischere Bürger ist Mitglied in einer dieser vier HMOs: Clalit, Maccabi, Leumit oder Meuhedet. Die Mitglieder zahlen einen definierten Sozialversicherungsbeitrag an die HMO und haben dafür Anspruch auf einen festgelegten Leistungskatalog; ein Finanzausgleich findet unter Aufsicht des Gesundheitsministeriums statt.
Wettbewerb zwischen den HMOs fördert Innovationsdenken
Das Ministerium lässt den vier HMOs hingegen freie Hand bei der Verwaltung ihrer Mitglieder und ihres Angebots. Auf diese Weise sind die HMOs als eigene kleine Gesundheitssysteme jeweils bestrebt, bestmögliche Services zu bieten und ihre Effizienz zu steigern, um neue Mitglieder zu sich zu locken. Das, und die Tatsache, dass in Israel ärztliches sowie Pflegepersonal knapp ist, spornt ebenfalls dazu an, innovativ zu sein.
So mag es kaum verwundern, dass auch die Telemedizin-Landschaft in Israel schon viel weiter vorangeschritten ist als in vielen anderen Nationen. Zahlreiche Start-ups entwickeln telemedizinische Lösungen und ergattern große Investorensummen. Eines davon ist TytoCare, das ein Instrumenten-Kit anbietet, mit dem sich gewöhnliche Untersuchungen des Rachenraums, der Ohren, Augen, Haut und Lunge von zu Hause aus durchführen lassen. Die Ergebnisse werden live an einen Telemedizin-Arzt übermittelt. Ein ähnliches Prinzip verfolgt healthy.io, das Patienten zeitaufwändige Laboruntersuchungen ersparen will: Sie bekommen Teststreifen für Urinuntersuchungen nach Hause geschickt. Die Ergebnisse werden mit dem Smartphone fotografiert, eine App gleicht das Foto anschließend mit einer Datenbank in der Cloud ab.
Aber nicht nur in der Start-up-Szene wird fleißig an Innovationen für die Digitalisierung der Gesundheit gearbeitet. Eben die HMOs sind bestrebt, kostengünstige Lösungen für eine integrierte Versorgung zu schaffen – insbesondere bei chronisch kranken Patienten. Bestes Beispiel für einen innovativen Ansatz, der sich bereits in der Regelversorgung findet, ist MOMA, ein multidisziplinäres Gesundheitszentrum, das 2012 von Maccabi HealthCare Services, der zweitgrößten HMO Israels, zusammen mit dem Gartner Institute gegründet wurde. Rund 25 Prozent der israelischen Bevölkerung, also etwa zwei Millionen Menschen, sind Mitglied bei Maccabi. MOMA bietet Betreuung für Patienten mit verschiedenen komplexen chronischen Erkrankungen, darunter Diabetes, COPD, chronische Herzinsuffizienz oder Krebs. Oder Patienten, die ein Stoma tragen, also einen künstlichen Darmausgang, chronische Wunden haben oder zu Hause gepflegt werden müssen.
MOMA: Telemedizin für chronisch Kranke
Bei MOMA arbeiten unter anderem Krankenschwestern, Ärzte verschiedener Fachrichtungen, klinische Apotheker, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter oder Ernährungswissenschaftler interdisziplinär zusammen. Diese sind über MOMA im ganzen Land miteinander vernetzt. So kann beispielsweise auch ein schwer Herzkranker aus dem ländlichen Kirja Schmona im hohen Norden Israels von Spezialisten aus Tel-Aviv betreut werden.
Ziel einer Betreuung durch MOMA ist es nicht, die Behandlung des Patienten durch seinen niedergelassenen Arzt zu ersetzen. Vielmehr versteht sich MOMA als Komplementär-Service, um den Patienten im Umgang mit seiner chronischen Erkrankung zu unterstützen und zu schulen. Dadurch sollen die Therapietreue des Patienten sowie der Erfolg der Therapie maßgeblich gesteigert werden. Dafür arbeitet das MOMA-Zentrum auch eng mit Hausärzten sowie anderen Gesundheitsdienstleistern und Behandlungseinrichtungen zusammen. Auch die Zahl der Besuche in der Notaufnahme sollen durch MOMA reduziert werden.
MOMA bietet dafür insbesondere telemedizinische Leistungen an. Diese sollen vor allem die Versorgung von Patienten aus ländlichen Gebieten verbessern, aber auch Patienten aus großen Städten die Möglichkeit geben, nicht für jede Angelegenheit eine Arztpraxis aufsuchen zu müssen. Derzeit betreut das Zentrum etwa 6.000 Patienten mit verschiedensten Erkrankungen, seit dessen Gründung waren insgesamt schon rund 20.000 Patienten an die MOMA-Versorgung angeschlossen.
Den Patienten steht bei MOMA eine Hotline rund um die Uhr zur Verfügung, über die sie Kontakt zu Krankenschwestern aufnehmen können, die auf chronisch Kranke spezialisiert sind – sowohl telefonisch als auch per Video-Sprechstunde. Über eine Kamera kann die Krankenschwester beispielsweise die Wunde des Patienten begutachten, ihn beim Messen des Blutdrucks oder dem Spritzen von Insulin unterstützen.
Die Krankenschwestern von MOMA sind somit die Koordinatoren der Patientenfälle. Entweder geben sie dem Patienten direkt Ratschläge, oder leiten ihn an einen Fachspezialisten weiter, koordinieren Termine oder ordnen weitere Untersuchungen an. Eines der neueren MOMA-Entwicklungen ist „TelePedriatics“, ein Service, der sich auf die Tele-Kommunikation zwischen Eltern mit Kindern und pädiatrisch-spezialisierten Schwestern sowie Kinderärzten spezialisiert hat.
Darüber hinaus nutzt das MOMA Hardware aus dem Bereich Internet of Things (IoT), wie etwa Blutzuckermess-Kits für zu Hause, die an eine App angeschlossen sind und die Daten direkt an das MOMA-Zentrum übermitteln. Oder spezielle Tablettenschachteln, die über einen Sensor erkennen, ob der Patient seine Medikamente eingenommen hat. Zusätzlich zum Management von chronischen Erkrankungen hat sich das MOMA auf die Entwicklung von Präventions-Tools spezialisiert und bietet etwa digitale und tele-assistierte Rauchentwöhnungsprogramme an.
Sämtliche Daten, die über die Telemedizin-Services über den Patienten gespeichert, oder innerhalb des MOMA-Netzwerks ausgetauscht werden, kann das Zentrum zeitgleich an den behandelnden Arzt übermitteln, sodass dieser immer über den Gesundheitszustand seines Patienten informiert ist. Technisch basiert das MOMA-Service-Angebot auf einem einzigen System, in das automatisch sämtliche Daten einlaufen, beispielsweise Laborwerte, Röntgenbilder, Medikamentendaten, Klinikberichte oder Rechnungsdaten. Durch Verwendung von IT-Standards und einheitlicher Terminologien ist der Grad der Interoperabilität in diesem System entsprechend hoch und der Austausch der Daten etwa zwischen Labor, Klinik und dem MOMA-Call-Center reibungslos möglich.
Speziell ausgebildete Krankenschwestern nutzen algorithmische Entscheidungssysteme
Über ein Patientenportal, das an das Datensystem angeschlossen ist, haben wiederum sowohl die behandelnden Ärzte sowie der Patient selbst Zugang zur persönlichen Gesundheitsakte sowie zu Web- oder App-basierten Tools für das Krankheitsmanagement oder zur Terminvereinbarung. Und auch intern spielen Daten bei MOMA eine große Rolle: Durch den Pool von mehr als zwei Millionen Mitgliedern bei Maccabi kann die HMO Big-Data-Analysen betreiben, um ihre Services zusätzlich zu verbessern. Bei MOMA können Krankenschwestern beispielsweise einen Algorithmus nutzen: Sie stellen dem Patienten spezielle Fragen und erhalten über die Antworten und den Algorithmus eine Entscheidungshilfe zur weiteren Behandlung. Fachärzte geben diese Entscheidung dann frei.
Seit gut sechs Jahren ist MOMA im Einsatz, und schon jetzt zeugen Ergebnisse aus verschiedenen Evaluationsstudien vom Erfolg des Gesundheitszentrums und des breiten Einsatzes von telemedizinischen Lösungen. Beispielsweise:
- Diabetes-Patienten mit Zugang zu MOMA haben im Vergleich zu Patienten mit Zugang zu einer Standardversorgung signifikant bessere Langzeit-Blutzuckerwerte
- Patienten mit MOMA-Betreuung bleiben nicht so lange im Krankenhaus [PDF] wie Patienten ohne MOMA-Betreuung
- MOMA-Patienten werden signifikant weniger oft ins Krankenhaus eingewiesen
- Die Therapietreue, insbesondere bei Patienten mit COPD und chronischer Herzinsuffizienz ist gestiegen
- MOMA-Patienten achten generell mehr auf sich, eine gesunde Ernährung, auf körperliche Bewegung und nehmen ihre Medikamente wie empfohlen ein
Insgesamt sind Maccabi zufolge die Gesundheitskosten [PDF] durch den Einsatz von MOMA gesenkt worden. Demnach betrugen die Ausgaben für MOMA-Patienten bereits im ersten Jahr nach Gründung des Zentrums vier Prozent weniger [PDF] als für vergleichbare Maccabi-Mitglieder, die keinen Zugang dazu hatten. Für eine Video-Sprechstunde erhalten Ärzte im Übrigen die gleiche Vergütung wie für eine normale Sprechstunde. Maccabi sieht das so: Ein Arztbesuch ist ein Arztbesuch.
Hinweis: Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Dr. Cinthia Briseño entstanden. Frau Briseño unterstützt die Vorort-Recherchen zur Studie #SmartHealthSystems mit journalistischen Blog-Beiträgen zu den verschiedenen Ländern.
Die Studie führt die empirica – Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durch.
Verfolgen Sie die Eindrücke unserer Länderreisen zur Studie bis Ende 2018
Die vollständigen Ergebnisse unserer internationalen Vergleichsstudie stellen wir im November 2018 vor. Bis dahin veröffentlichen wir nach und nach interessante Erkenntnisse und gute Beispiele aus den untersuchten Ländern hier bei uns im Blog.
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