Der digitale Patient“ will sich in einer Debattenreihe den Möglichkeiten und Grenzen von Big Data im Gesundheitswesen konstruktiv nähern. Unser Blog fungiert dabei als Plattform, wir lassen hier Experten aus den verschieden Bereichen zu Wort kommen. Dr. Sarah Fischer bloggte im vorherigen Beitrag zu möglichen Wegen, wie wir zu mehr Datensouveränität im Umgang mit Big Data kommen könnten. In diesem Beitrag gibt Dr. Peter Langkafel im Interview Antworten dazu, welche Big-Data-Anwendungen in die Regelversorgung sollten, über die Emanzipation der Patienten und Big Data als Projektionsfläche von Hoffnungen und Ängsten.


Welche Big-Data-Anwendungen würden Sie gern bald in der Regelversorgung des deutschen Gesundheitssystems sehen und warum?

Langkafel: „Ich würde mir zuallererst einen Prozess und Rahmenbedingungen wünschen, unter denen ‚Big-Data-Anwendungen‘ untersucht, erprobt und evaluiert werden können. Und dies nicht nur bezogen auf einen einzelnen Akteur im Gesundheitswesen, sondern in einem vernetzten Ansatz. Was wäre möglich, wenn wir wirklich mal ‚alle Daten‘ unter geschützten Rahmenbedingungen ‚zusammenwerfen‘ würden?

Dr. Peter Langkafel
© Hier steht eine Quellenangabe.

Schon heute gibt es eine Vielzahl von Daten und Datensilos, deren Nutzung möglich und realistisch ist. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich Medikation: Krankenkassen, Krankenhäuser und niedergelassene Mediziner könnten bereits heute per Software Wirkungen und Nebenwirkungen von verschiedenen Medikamentencocktails untersuchen und optimieren – dies wird leider viel zu wenig gemacht.

Zudem ist bereits möglich, aus Datenbeständen prospektiv Entwicklungen von Krankheiten ‚vorherzusehen‘ – dieses Wissen nutzen wir Stand heute praktisch gar nicht. Zudem wissen wir in der Medizin viel zu wenig vom Alltag des Patienten, Versicherten und Bürgers – die meisten Studien werden ja in hochspezialisierten Settings im universitären Umfeld durchgeführt. Um zukünftig die Medizin zu verbessern, müssen wir nicht nur besser verstehen, was beim Patienten in seiner Realität ankommt, sondern auch, was er persönlich bevorzugt (‚patient choice‘).“

Wo sollten wir eine Grenze ziehen, wenn es um die Anwendung von Big Data im Gesundheitswesen geht?

Langkafel: „Vielleicht ist die Frage falsch formuliert, denn es geht nicht darum, dass ‚wir‘ eine Grenze ziehen, sondern dass der Patient in die Lage versetzt wird, eigene Grenzen und Ansprüche zu verstehen und zu formulieren – mit den entsprechenden Chancen und Risiken. Vor allem im Sozialgesetzbuch V ist ja heute geregelt, was ein Patient darf und was er nicht darf. Das hat für mich teilweise schon paternalistische Züge – den Patienten in seiner Situation zu schützen ist das eine, aber die freiwillige Handlungsfähigkeit in Frage zu stellen – das geht zu weit. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn jemand sagen würde: Bitte nehmt meine Daten und nutzt sie! Heute und nach meinem Tod. Dann ist dieser Prozess heute so gar nicht vorgesehen und umsetzbar. Damit stellt sich auch die Frage nach ‚Datensparsamkeit‘ und ‚Zweckbindung‘ von Daten neu. Der Begriff der Patientenautonomie im digitalen Zeitalter muss weiterentwickelt werden.

Wir brauchen mehr digitale Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen. Dies verstehe ich explizit als emanzipatorischen Ansatz. Warum sollten wir den Patienten, uns, nicht zutrauen, mit den Möglichkeiten der digitalen Welt reflektiert und kritisch umzugehen?

Hier können wir auch von anderen Bereichen etwas lernen: Big-Data-Analysen bedeutet ja auch, Risiken zu kennen und zu verstehen – oder auch das Recht auf Nichtwissen. Gerade diese Diskussion wurde zum Beispiel bei der Einführung des Gendiagnostikgesetzes ausführlich diskutiert und eine Frist und ein Beratungsprozess zwischen Anfrage und Ergebnis festgelegt – so etwas wäre möglicherweise auf ‚big data‘ übertragbar.“

Big Data: Wir brauchen mehr digitale Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen

Das Gesundheitssystem produziert schon heute viele – teilweise ungenutzte oder schwer zugängliche  – Daten. Ist der Trendbegriff Big Data nicht manchmal alter Wein in neuen Schläuchen?

Langkafel: „Big Data ist eine Wortkonstruktion, die ab dem Jahr 2013/2014 in Mode kam. Der Begriff ist ja nicht wirklich definiert. Er ist eine Projektionsfläche in die sich wahlweise extreme Sorgen und Ängste hineindenken lassen wie auch (übertriebene) Hoffnungen und Chancen.

Es gab ja bereits eine Reihe von Versuchen, diesen Begriff zu ändern – in Richtung Smart Data oder ‚Datability‘ zum Beispiel. In Big Data schwingt zurecht ‚big brother‘ mit – und daher halte ich dies zur Zeit auch noch für den besseren Begriff. Wir müssen lernen, die Chancen zu nutzen aber auch die Gefahren zu sehen. Einige Softwareprodukte im Bereich Datenanalyse und Visualisierung unterliegen dem sogenannten ‚dual use‘. Das bedeutet, dass sie für zivile, friedliche und hoffentlich sinnvolle Anwendungen genutzt werden kann. Aber eben auch für militärische oder gemeindienstliche Zwecke.

Alter Wein in neuen Schläuchen? Ja klar, manchmal nutzt eine Marketingabteilung den Begriff, um einem alten Ansatz etwas mehr Pepp zu geben. Im neuen Testament führt Matthäus (9,17) weiter aus: ‚Auch gießt man nicht alten Wein in neue Schläuche. Sonst zerreißen die Schläuche, der Wein wird verschüttet und die Schläuche sind verdorben.‘“

Wer von ‚altem Wein‘ spricht hat auch eines nicht verstanden: 90% aller Daten, die weltweit existieren, sind laut einer aktuellen Studie von McKinsey in den letzten zwei(!) Jahren entstanden. Und heute füllen wir Wein nicht mehr in Schläuche, sondern nutzen hochmoderne Abfüllstationen. Und diese ermöglichen zudem, den unterschiedlichen Geschmäckern das richtige Gebräu zukommen zu lassen – das ganze übrigens in der Regel hoch kontrolliert. Vielleicht können wir im Umgang mit Big Data hier also etwas dazulernen.“


Dr. med. Peter Langkafel ist Gründer und Geschäftsführer der Healthcubator GmbH. Er leitete vorher den Bereich Unternehmens­entwicklung der Charité und war bis 2015 bei der SAP AG verantwortlich für Healthcare in Europa. Er ist Herausgeber des Fachbuchs „Big data in der Medizin und Gesundheitswirtschaft: Diagnose, Therapie, Nebenwirkungen“ (medhochzwei Verlag, 2014).

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