Über die letzten drei Jahre ist die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems deutlich beschleunigt worden. In der Debatte wurde das schnelle und flexible Vorgehen der Politik oft als „agil“ bezeichnet. Doch was zeichnet agile Politikgestaltung genau aus – und kann sie ein Vorbild für andere gesundheitspolitische Reformen sein? Prof. Dr. Nils C. Bandelow und Johanna Hornung von der TU Braunschweig sind diesen Fragen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung nachgegangen. Ihre Expertise zeigt: Agile Politikgestaltung kann nur erfolgreich sein, wenn es ein klar definiertes Ziel gibt und keine parteipolitische Polarisierung.


Viele Jahre blockierten die Akteure der Selbstverwaltung sich gegenseitig, als es darum ging, das deutsche Gesundheitswesen digitaler zu machen. Doch dann funktionierte es in der letzten Legislaturperiode Schlag auf Schlag: Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), die Video-Sprechstunde und die elektronische Patientenakte wurden in diversen Gesetzen auf den Weg in die Regelversorgung gebracht. In den Medien, aber auch von der Politik wurden diese Reformen oft als „agil“ bezeichnet und der Politikstil mit Schnelligkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gleichgesetzt. Übertragen aus dem agilen Projektmanagement zeichnet sich ein agiler Politikstil aber auch durch weitere Elemente, etwa eine iterative und ergebnisoffene Arbeitsweise, aus.

Wäre ein solch agiler Politikstil auch eine Chance für andere Reformen in der Gesundheitspolitik? Welche Anforderungen muss die Politik dafür erfüllen? Die Bertelsmann Stiftung hat Prof. Dr. Nils C. Bandelow und Johanna Hornung (TU Braunschweig) gebeten, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Sie untersuchten acht Gesundheitsreformen: vier frühere Vorhaben, bei denen es nicht um die Digitalisierung des Gesundheitswesens ging (Bürgerversicherung, Selektivverträge, Praxisgebühr, Fallpauschalen für Krankenhäuser), sowie vier aktuelle Vorhaben, die das Gesundheitswesen digitaler machen sollen (DiGAs, DiPAs [digitale Pflegeanwendungen], die Einrichtung eines Forschungsdatenzentrums, Anschluss an die Telematik-Infrastruktur). Die ausgewählten Beispiele unterschieden sich zudem nach ihrer Komplexität, ihrem Umsetzungsstand und ihrer Regelungstiefe.

Proaktiv handeln, vernetzen, kommunizieren

Gesundheitspolitische Reformvorhaben werden in Deutschland klassischerweise konsensual vorangetrieben, das heißt, die Politik bindet dabei vor allem Akteure der Selbstverwaltung ein. Dieser konsensuale Politikstil im Umgang mit Krankenkassen, Leistungserbringern und verschiedenen Gremien ist meist dadurch gekennzeichnet, dass er langsam und eher reaktiv vorgeht. Mögliche Blockaden werden von vornherein einkalkuliert. Dagegen verspricht ein agiler Politikstil, der auf Prinzipien des agilen Projektmanagements basiert, auf den ersten Blick Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.

Ein agiler Politikstil ist erst einmal ein Prozess, in dem ein politisches Ziel definiert und politische Maßnahmen stückweise erarbeitet werden. Diese werden dann regelmäßig auf ihren Nutzen hin überprüft und notfalls nachjustiert (iteratives Vorgehen). In einem Gesetzgebungsverfahren, das zum Beispiel ein neues Vergütungssystem für medizinische Leistungen einführen will, würde man die neue Regelung schon bald evaluieren und je nach Ergebnis erneut überarbeiten. Ein agiler Politikstil sollte sich auch durch Ambidextrie auszeichnen, also die Fähigkeit, auf funktionierenden Strukturen aufzubauen, aber gleichwohl flexibel auf neue Entwicklungen zu reagieren. Ein gutes Beispiel sind die DiGAs: Hier ist es gelungen, neue digitale Therapielösungen in die bisherigen Strukturen der Kostenerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung einzuführen.

Bei agiler Politik geht es zudem darum, proaktiv zu handeln: Herausforderungen sollen möglichst schnell angegangen werden, bevor daraus Probleme entstehen, die gelöst werden müssten. Dabei setzt die Politik auf Vernetzung und die Einbindung vieler, unabhängiger Expertinnen und Experten für ein bestimmtes Gesetzgebungsvorhaben. Regelmäßige Kommunikation begleitet die Arbeit der Akteure untereinander, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit. Dafür braucht es ein gemeinsames Kommunikationskonzept zum jeweiligen Verfahren und das gegenseitige Vertrauen aller Beteiligten.

Kein Patentrezept für Reformerfolg

Muss eine Regierung sich zwischen dem althergebrachten konsensualen und einem agilen Politikstil entscheiden, hat sie etliche Herausforderungen vor sich. Denn grundsätzlich gilt: Weder der eine noch der andere Politikstil ist ein Patentrezept für erfolgreiche Reformen – beide haben Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken.

Ein konsensuales Vorgehen ermöglicht beispielsweise, früh die Akteure der Selbstverwaltung einzubinden und damit „sicherzustellen“, dass die Reformmaßnahmen später auch zuverlässig umgesetzt werden. Ein Schwachpunkt ist allerdings, dass es hier bereits früh im politischen Prozess zu Blockaden zwischen den Beteiligten kommen kann. Und es besteht das Risiko, dass dringend notwendige Reformen lange in Verhandlungen steckenbleiben, bevor sie überhaupt beschlossen werden.

Agile Politik zeigt vor allem dann ihre Stärken, wenn große Unsicherheit herrscht. Gerade für komplexe und neuartige Herausforderungen, wie die Digitalisierung des Gesundheitswesens sie mit sich bringt, scheint der agile Politikstil daher geeignet. Denn ein agiles Vorgehen ermöglicht, Reformmaßnahmen an neue Problemstellungen flexibel anzupassen. Das bedeutet für die Politik allerdings auch eine entsprechend hohe Arbeitsbelastung.

Die Bedingungen müssen passen

Die Analyse zeigt, dass ein agiler Politikstil nur unter bestimmten Bedingungen erfolgreich sein kann. So wirkten frühere Reformvorhaben (ohne Digitalisierungsbezug), wie das zur Bürgerversicherung oder zur Einführung der Praxisgebühr, zu polarisierend zwischen den politischen Parteien, als dass man mit agilen Methoden optimale Lösungen hätte finden können.

Bei den anderen untersuchten Beispielen hingegen, wie der Einführung von Fallpauschalen für die Krankenhausfinanzierung, konzipiert als lernendes System zur Berechnung der Vergütung von Krankenhäusern, hätte ein agiler Politikstil durchaus zum Erfolg beitragen können. Aber hier drehte sich die politische Debatte mehr um die Ausgestaltung des Instruments der Fallpauschalen selbst, als sich auf das eigentliche Ziel einer nachhaltigen Krankenhausfinanzierung zu fokussieren. Agil vorzugehen war damit nicht möglich.

Digitalisierung des Gesundheitswesens nur teilweise agil

Ansätze einer agilen Politikgestaltung haben sich bei den Reformen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens durchaus gezeigt. In die Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen wurden etliche neue Akteure wie die Hersteller von DiGAs eingebunden und die Gesetzgebung wurde flexibel gestaltet: Das Bundesgesundheitsministerium legte lediglich die Kriterien für die Erstattungsfähigkeit fest; gleichzeitig wurden aber die bestehenden Strukturen zu Preisverhandlungen genutzt, um DiGAs zu vergüten. Das Thema DiGA war auch parteipolitisch kaum umstritten. Ähnliches lässt sich bei der Einführung digitaler Pflegeanwendungen (DiPAs) beobachten, wobei einzuwenden ist, dass hier der Einführungsprozess der DiGAs lediglich kopiert wird. Bei beiden Anwendungen stand jedoch in der Debatte um die Einführung dieser Instrumente das Ziel einer verbesserten Gesundheitsversorgung im Vordergrund. Es zeigt sich also, dass es wichtig ist, frühzeitig gesundheitspolitische Ziele für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu formulieren.

Bei der Telematikinfrastruktur (TI) haben sich lange Zeit verschiedene Politikstile abgewechselt, weil die Akteure der Selbstverwaltung sich bei der TI-Ausgestaltung durch die gematik oft gegenseitig blockierten, bis schließlich das Bundesgesundheitsministerium die Mehrheitsanteile an der gematik übernahm. Gerade bei der TI hätte es großes Potenzial für eine agile Politikgestaltung gegeben, um das Ziel – die Vernetzung des Gesundheitswesens – zu erreichen. In der konkreten Umsetzung von gematik-Modellprojekten zu digitalen Versorgungslösungen wie dem E-Rezept oder der telemedizinischen Betreuung in Pflegeheimen lassen sich jedoch agile Ansätze erkennen. Das Potenzial, die TI unter Einbindung verschiedenster Akteure agil weiterzuentwickeln, sollte daher genutzt werden.

Die Analyse und der Vergleich verschiedener Reformen zeigen, dass der Politikstil unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Gesamtschau nur teilweise agile Züge getragen hat, etwa bei der Einführung der DiGAs. Insgesamt dienten die Reformen vor allem dazu, neue Instrumente einzuführen oder Themen im Allgemeinen durchzusetzen, wie „die Digitalisierung“, ohne dafür konkrete gesundheitspolitische Ziele oder zu lösende Probleme in den Blick zu nehmen.

Handlungsempfehlungen

Ein agiler Politikstil garantiert nicht automatisch einen schnellen Reformerfolg. Vielmehr geht es darum, Reformmaßnahmen in kleinen Schritten zu erproben und immer wieder flexibel anzupassen, um besonders komplexe oder neuartige Herausforderungen der Gesundheitspolitik zu meistern – vor allem dann, wenn darüber noch wenig bzw. unsichere Informationen vorhanden sind. Aus der Expertise lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten:

  1. Ein agiler Politikstil lässt sich am besten bei Themen einsetzen, die wenig Gefahr laufen, parteipolitisch zu polarisieren. Er sollte daher schon genutzt werden, wenn das Reformvorhaben formuliert wird.
  2. Damit agile Politik erfolgreich ist, muss ein Problem und/oder Ziel benannt werden, das auch alle am Prozess Beteiligten als solches (an)erkennen.
  3. In – agil gestalteten – Modellprojekten lassen sich innovative Lösungen in kleinem Rahmen erproben. Fehlschläge und ihre Korrekturen muss die Politik tolerieren.
  4. Agile Politik braucht Kommunikation: Reformideen müssen in ein Narrativ eingebunden werden, das klar und verständlich erläutert, wie die Ideen zur Lösung der definierten Probleme oder zur Erreichung des Ziels beitragen.

 


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