Im September 2023 war Dr. Tobias Silberzahn bei der Vorstellung des Trusted Health Ecosystems-Konzepts dabei – einer Vision der Bertelsmann Stiftung für eine umfängliche, qualitativ hochwertige und nutzerfreundliche nationale digitale Gesundheitsplattform. Im Gespräch mit Sophia Schlette verweist der Digital HealthCare-Experte auf internationale Plattformvorbilder. Zudem erläutert er, wer für eine Trägerschaft in Frage käme und welche Prinzipien sich bei digitalen Ökosystemen bewährt haben.
Lernen über oder lernen von? Welches Land mit gut etablierten Gesundheitsplattformen könnte – bei aller Verschiedenheit der Systeme, der Größe, der politischen Kultur – Vorbild sein?
Dr. Tobias Silberzahn: Es gibt eine ganze Reihe von Ländern, die in diese Richtung gehen und man kann von den Erfahrungen einiger Länder lernen.
Ein außereuropäisches Beispiel ist Indien. Dort hat man im Jahr 2009 mit „Aadhaar“ ein System für digitale Identitäten etabliert und in den 15 Jahren bis heute sind eine ganze Reihe an zusätzlichen „Modulen“ dazugekommen, die zusammen die indische Gesundheitsplattform bzw. ein ganzes Gesundheits-Ökosystem bilden. Diese Module wurden größtenteils als „Digital Public Infrastructure“ aufgesetzt, an die natürlich auch private Gesundheitsanbieter, wie z. B. privat geführte Krankenhäuser oder diagnostische Labore angebunden sind.
Die Vision in Indien ist, ein nationales digitales Gesundheitsökosystem zu kreieren – mit den Prinzipien einer föderierten Daten-Architektur, freiwilliger Teilnahme, „Privacy and Security by Design“ und Bürgerzentrierung. Was man damit erreicht hat: Mittlerweile wurden fast 1.4 Milliarden digitale Identitäten ausgestellt und das System wird genutzt: Pro Monat werden ca. 2 Milliarden Authentifizierungen durchgeführt. Dieses System ermöglicht es zum Beispiel auch, nationale Impfkampagnen umzusetzen oder eine große Anzahl an telemedizinischen Konsultationen durchzuführen.
Ein europäisches Beispiel ist das „Health Village“ in Finnland:
Das „Health Village“ wurde von finnischen Unikliniken entwickelt. Es beinhaltet verschieden Angebote, zum Beispiel für Rehabilitation, Notfälle oder mentale Gesundheitsangebote. Diese Angebote können zu Patientenpfaden verknüpft werden, je nach Diagnose und Bedarf der Patientinnen und Patienten. Bisher gibt es mehr als 400 solcher Versorgungspfade – das Konzept ist also sehr ähnlich zu dem Trusted Health Ecosystems-Konzept der „Patientenpfade“.
Welches Trägerschaftsmodell halten Sie am geeignetsten für eine Gesundheitsplattform, auf der alles zusammenläuft: validierte Gesundheitsinformationen, ePA, individualisierte Patientensteuerung, Nudging? Und wer in Deutschland könnte Ihrer Einschätzung nach dieses Projekt unter seine Fittiche nehmen?
Dr. Tobias Silberzahn: Eine nationale Gesundheitsplattform ermöglicht ein offenes Gesundheitsökosystem. Solch ein offenes Ökosystem vereint eine Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen. Im Gesundheitswesen könnten dies zum Beispiel Patientinnen und Patienten, Leistungserbringer, Kostenträger und Anbieter von Produkten und Services sein.
Für Gesundheitsökosysteme sind unterschiedliche Trägermodelle denkbar, die wiederum eine Reihe von Vor- und Nachteilen mit sich bringen. Bei der Betrachtung dieser Optionen gilt es, eine Reihe von Prinzipien zu berücksichtigen, an denen sich eine nationale Gesundheitsplattform orientieren sollte, um akzeptiert und genutzt zu werden. Hier ein paar Prinzipien, die sich bei offenen Ökosystemen bewährt haben:
Keine Gewinnorientierung beim Betrieb der Plattform. Der Betrieb der Plattform soll ohne Gewinnorientierung ablaufen; etwaige Einnahmen fließen zum Beispiel in die Weiterentwicklung der Plattform. Dieses Prinzip wirkt sich natürlich auch auf das mögliche Trägermodell der Plattform bzw. des Ökosystems aus – also man würde normalerweise ein privatwirtschaftliches gewinnorientiertes Trägermodell eher vermeiden.
Bei einem nationalen Gesundheitsökosystem ist zudem die Gemeinwohlorientierung ein weiterer wichtiger Punkt, der Implikationen auf die Wahl des Trägermodells hat.
Unabhängigkeit. Das Ökosystem soll neutral und unabhängig von ökonomischen Partikularinteressen agieren. Dieses Prinzip könnte für das Trägermodell bedeuten, dass z. B. mehrere Organisationen an der Leitung bzw. Governance beteiligt sein könnten.
Nachhaltigkeit. Wie beim Trusted Health Ecosystem-Konzept schon deutlich gemacht wurde: Aufbau und Skalierung von Ökosystemen erfordern Zeit – entsprechend langfristig sollte das Trägermodell (und die Finanzierung) angelegt sein.
Transparenz. Ein transparentes Trägermodell mit transparenter Finanzierung erhöht das Vertrauen in die Plattform.
Offenes System. Die nationale Gesundheitsplattform soll als offenes Ökosystem entwickelt werden, das die Anbindung verschiedener Gesundheitsanbieter erlaubt – diese Offenheit sollte auch das Trägermodell reflektieren.
Damit die Angebote eines Gesundheitsökosystems sinnvoll ineinandergreifen können, braucht es geeignete Governance-Mechanismen. Dem Betreiber kommt dabei die Rolle des Orchestrators zu, die Stakeholder zusammenzubringen und die Rahmenbedingungen für ein bedarfs- und lösungsorientiertes Zusammenspiel zu schaffen. Eine klare Governance regelt dabei die Zuständigkeiten der am Ökosystem beteiligten Akteure.
Wie bringen wir so ein digitales Ökosystem für Gesundheitsversorgung zum Fliegen?
Dr. Tobias Silberzahn: Um ein digitales Ökosystem erfolgreich zu machen, müssen die Leistungen die Bedürfnisse der Nutzer adressieren. Und Nutzerzentrierung kann man durch die Zusammenarbeit mit den Nutzern bei der (Weiter)-Entwicklung der Plattformleistungen erreichen.
Wie so etwas in der Praxis aussehen kann, zeigt das Beispiel „Sundhed.dk“, ein dänisches Gesundheitsportal: Ein „User Panel“ ermöglicht die Mitgestaltung der Patientinnen und Patienten bei der Entwicklung der digitalen Services. Es gibt zum Beispiel auch Nutzergespräche, Fokusgruppen, Tests und Umfragen. Diese führt einerseits zu mehr Nutzung durch Patientinnen und Patienten und andererseits zu Kundenzufriedenheit.
Last but not least… der Blick in die Glaskugel: Wo sehen Sie die größten Chancen für Gesundheitsplattformen in der nahen Zukunft?
Dr. Tobias Silberzahn: Die größte Chance für Gesundheitsplattformen sehe ich in der engen Zusammenarbeit mit Patientenorganisationen. Diese Organisationen wissen sehr gut, wo der Schuh drückt und wie zum Beispiel Patientenpfade aussehen müssen, damit sie genutzt werden.
Zur Person: Tobias Silberzahn ist promovierter Biochemiker und arbeitet als Partner im Berliner Büro von McKinsey. In seiner Arbeit dreht sich alles um das Thema Gesundheits-Innovation und Digitalisierung.
Zusätzlich leitet Tobias Silberzahn das globale „Health Tech Network“, ein Netzwerk von über 1900 CEOs/Gründern von digitalen Gesundheitsfirmen, 400 Investoren und 400 Gesundheitsorganisationen. Er ist Mitherausgeber des jährlichen „eHealth Monitors“, einem Buch zur Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems im MWV-Verlag.
Innerhalb von McKinsey leitet Tobias ein präventives Gesundheitsprogramm, das die Themen Schlaf, Ernährung, Fitness und Stress Management abdeckt.
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