Wenn im Kontext digitaler Gesundheit über Vernetzung gesprochen wird, liegt die Bedeutung von IT-Standards, Schnittstellen und der Interoperabilität von Systemen auf der Hand. Und gerade wenn es um einrichtungsübergreifende Elektronische Patientenakten geht, spielen diese Aspekte eine grundlegende Rolle – das wird auch in der von uns veröffentlichten Expertise von Peter Haas deutlich. Um die Relevanz der – im Diskurs häufig wie „Buzzwords“ genutzten und unklar verwendeten – Begriffe einzuordnen, haben wir mit Standardisierungs-Expertin Sylvia Thun gesprochen. Auszüge unseres Austauschs veröffentlichen wir in diesem Interview. Thun zufolge haben Patienten ein Recht auf IT-Standards. In Deutschland brauche es mehr politische Steuerung und übergeordnete Vorgaben.


IT-Standards, Schnittstellen, Interoperabilität – Frau Thun, erklären Sie uns bitte aus Ihrer Sicht, was es damit auf sich hat.

Sylvia Thun zu IT-Standards im Gesundheitswesen
© Hier steht eine Quellenangabe.
Thun: „Es geht ja bei Standards im Kern um die bestenfalls weltweit anerkannte und auch angewandte Art und Weise, etwas zu tun – egal, ob bei der Kommunikation zwischen zwei Systemen oder bei der Ausgestaltung von Produkten. Ein Standard, den jeder kennt, ist der Industriestandard DIN A4. Er wird ganz selbstverständlich von Geräte- und Softwareherstellern verwendet. Und auch anhand unserer Sprache lässt sich zeigen: Wir können uns nur unterhalten, wenn wir sowohl dieselbe Sprache sprechen als auch die Grammatik beherrschen. An diesem Beispiel sieht man auch, wie wichtig der Kontext von Ausdrücken ist: Wenn ich Ihnen das Wort ‚Bank‘ nenne, wissen Sie zunächst nicht, was ich meine. Daher spielen eindeutige sogenannte Identifikatoren eine wichtige Rolle.

Verlässliche Standards implizieren dann im nächsten Schritt auch funktionierende Schnittstellen – was aber noch nicht für eine vollständige Interoperabilität ausreicht. Denn dazu müssen neben den technischen, syntaktischen und semantischen auch juristische und ethische Aspekte Hand in Hand gehen. Und erst wenn das alles berücksichtigt ist, sind wir am Ende interoperabel. Dann können zwei oder mehr verschiedene Systeme miteinander kommunizieren.“

Was verbirgt sich hinter diesen verschiedenen Aspekten von Interoperabilität?

Thun: „Technische Interoperabilität wird zum Beispiel durch das Netzwerkprotokoll TCP/IP abgebildet, das sich allgemein durchgesetzt hat und den Datenaustausch zwischen Computern regelt. Die Anwendung einer bestimmten Programmiersprache spiegelt dann die syntaktische Interoperabilität wieder – verwende ich XML, oder ASCII wie beim elektronischen Medikationsplan, oder JSON? Das ist am Ende die Grammatik.

Auf diesen Ebenen kann ich beispielsweise schon ein PDF hin- und herschicken. Semantische Interoperabilität sagt jetzt, dass ein System mit diesem PDF auch weiterarbeiten kann, also den Inhalt versteht: Ist das PDF ein Arztbrief, oder ein Überweisungsschein? Gäbe es dann im PDF noch HL7-annotierte ICD-Codes, könnte man diese Information beispielsweise für Wissensmanagement- oder Patientenrekrutierungssysteme klinischer Studien weiterverarbeiten.“

Wie gut sind wir denn im deutschen Gesundheitswesen, was den Einsatz von konsentierten IT-Standards angeht?

Thun: „An einzelnen Stellen funktioniert das schon ganz gut, beispielsweise im Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Im DIMDI gibt es Arbeitsgruppen, die Konsens zu Klassifikationen wie ATC (Anatomisch-Therapeutisch-Chemisch) oder OPS (Operationen und Prozeduren) herstellen. Das DIMDI ist gesetzlich verankert und erhält entsprechend Unterstützung durch das Bundesministerium für Gesundheit. Ein Paradebeispiel ist sicherlich die ‚International Classification of Diseases‘ (ICD). Hier haben wir es bereits vor zwanzig Jahren geschafft, einen weltweiten Standard mit- und weiterzuentwickeln und zu implementieren – mit dem Erfolg, dass heute jeder Arzt und jedes Krankenhaus ICD-10 nutzt.

„Ich finde, der Patient hat ein Recht auf IT-Standards.“

In anderen Bereichen funktioniert Standardisierung überhaupt nicht, zum Beispiel beim Maßeinheitenstandard UCUM. Auf dem deutschen Markt geht die Durchdringung gegen Null. Was passiert, wenn man beispielsweise verschiedene Maßeinheiten für Laborwerte verwendet – Milligramm pro Deziliter an der einen und Millimol pro Milliliter an der nächsten Stelle – ist leicht vorstellbar: Das ist eine enorme Gefährdung für den Patienten. Das ist vergleichbar mit der Sicherheit eines Flugzeugs: Dort habe ich zum Beispiel ein Recht  darauf, dass eine Sechser-Schraube verwendet wird und nicht eine Siebener. Ich finde, der Patient hat ein Recht auf IT-Standards.

Und weil wir die Festlegung auf internationale Standards viel zu lange verpasst haben, gibt es bei uns auf einmal Geschäftsmodelle, die an anderer Stelle undenkbar wären. So entwickeln Firmen und Labore eigene Terminologien, deren Abgleich auf internationale Standards anschließend teuer von Dienstleistern eingekauft werden muss.“

Im Sinne der Patientensicherheit und der Effizienz des Gesundheitssystems scheint die flächendeckende Nutzung international anerkannter IT-Standards also unerlässlich. Wie kann man deren Verbreitung fördern?

„Vesta ist ein erster Schritt. Aber es ist falsch verankert.“

Thun: „Akzeptanz für die entsprechenden Standards erreicht man zum einen über gesetzliche Vorgaben oder über die Schaffung dieser Vorgaben durch ärztliche Fachgesellschaften – vergleichbar mit Behandlungsleitlinien, in denen ja auch Konsens durch Experten erreicht wird. Von diesem Konsensprozess sind wir bei IT-Standards allerdings noch sehr weit entfernt, unter anderem, weil wir kein offizielles Portal für einen solchen Prozess haben. Das gerade ins Leben gerufene Interoperabilitätsverzeichnis ‚vesta‚ ist ein erster Schritt. Aber es ist falsch verankert. Die gematik ist – als Organ der Selbstverwaltung – für die Versorgung der gesetzlich versicherten Bürger unseres Landes zuständig. Die Festlegungen des vesta-Verzeichnisses gelten aber für alle Bürger und sollten daher von einer Organisation verantwortet werden, die diesem Anspruch  gerecht wird. Diese darf nicht den politischen Einflüssen von Gesellschaftern unterliegen, die ihre Interessen vertreten und nicht der Gesamtbevölkerung verpflichtet sind. Es sollte eine Zuständigkeit für Interoperabilitätsstandards und Terminologien auf  übergeordneter politischer Ebene aufgebaut werden.

Der zweite Weg wäre ein klares Bekenntnis der Industrie zur Nutzung internationaler Standards. Würden IT-Anbieter sich nicht weiter verschließen, könnten sie ihre Produkte auch im Ausland verkaufen – dazu haben sie im Moment kaum die Chance.“

Wenn wir eine einrichtungsübergreifende Elektronische Patientenakte in Deutschland haben wollen: Welche Voraussetzungen müssen dann in Hinblick auf IT-Standards erfüllt werden?

Thun: „Ich bin der Ansicht, dass es viele elektronische Patientenakten geben wird, die dann aber wiederum staatliche Vorgaben hinsichtlich ihrer Schnittmenge erfüllen müssen. Es wird also nicht die eine Akte geben. Es muss aber eine Basisschnittstelle geben, und ein Laborfund muss genauso aussehen wie vorgegeben – und nicht anders. Ob die Patientenakte hübsch ist, weiß oder blau, das ist dann wiederum egal. Auch der Anbieter spielt keine Rolle – aber die Schnittstelle muss sauber sein. Und das muss der Gesetzgeber vorgeben.

„Es muss ‚international‘ im Gesetz stehen.‘

Ein riesiger Schritt in die richtige Richtung wäre es aus meiner Sicht, sich dabei auf international anerkannte Standards zu einigen. Denn deutsche proprietäre Lösungen bringen uns auf lange Sicht nicht weiter – es muss ‚international‘ im Gesetz stehen.“


Prof. Dr. Sylvia Thun (@ProfThun) ist Ärztin, Ingenieurin und anerkannte Expertin für IT-Standardisierung im Gesundheitswesen. Seit 2011 ist sie an der Hochschule Niederrhein Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen. Seit 2006 ist Sylvia Thun im Vorstand der HL7-Benutzergruppe Deutschland, außerdem ist sie Vorsitzende des kürzlich gegründeten Spitzenverbandes IT-Standards im Gesundheitswesen (SITiG).


Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Beiträgen rund um das Thema Elektronische Patientenakten. Dabei werden wir in unregelmäßigen Abständen einzelne in der Expertise von Peter Haas analysierte Aspekte aufgreifen und auch andere Akteure zu Wort kommen lassen.

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