„Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt“, heißt es aktuell in der Muster-Berufsordnung für Ärzte. Bundesweit einmalig lockert die Landesärztekammer Baden-Württemberg jetzt dieses sog. „Fernbehandlungsverbot“: Hier darf im Rahmen von genehmigungspflichtigen Modellprojekten nun auch ausschließlich fernbehandelt werden. Warum diese Entwicklung notwendig und richtig ist, erklärt Dr. med. Oliver Erens im Blog-Interview.


Warum öffnet sich die Landesärztekammer Baden-Württemberg für ärztliche Behandlungen, die „ausschließlich über Kommunikationsnetze durchgeführt werden“, wie es in Ihrer Berufsordnung nun heißt?

Dr. Oliver Erens (Foto: privat)
© Hier steht eine Quellenangabe.
Erens: „Die geografische Situation Baden-Württembergs mit einer großen Grenze zur Schweiz und die berufliche Mobilität unserer Mitglieder bewirkt schon seit vielen Jahren, dass Ärztinnen und Ärzte zwar gerne im gemütlichen ‚Ländle‘ wohnen, aber im Anrainerstaat arbeiten, wo die Rahmenbedingungen für die Berufsausübung vielfach attraktiver erscheinen. Die in der Schweiz zunehmend flächendeckend praktizierte Telemedizin macht inzwischen eine Präsenz vor Ort unnötig, sodass die Ärztekammer immer wieder gefragt wird, ob Ärztinnen und Ärzte ihre grenzübergreifende Tätigkeit auch mittels Kommunikationsmedien, beispielsweise im Homeoffice, ausüben dürfen. Dies war der erste Anstoß – aber natürlich auch die Tatsache, dass einem Telemedizin auch heute schon an sehr vielen Stellen begegnet. Wir haben uns vorgenommen, mit diesen Entwicklungen nicht nur Schritt zu halten, sondern sie auch möglichst im Sinne unserer Mitglieder zu gestalten.

Um auf diese Herausforderungen konkret reagieren zu können, hat unsere Vertreterversammlung die zuvor beschriebene vorsichtige Öffnung der Berufsordnung beschlossen. Die Modellprojekte sollen wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Die Auswertungen werden zeigen, ob eine weitergehende Liberalisierung unserer Regelungen sinnvoll und möglich ist. Denn bei aller Begeisterung für technisch Denk- und Machbares wollen wir auch künftig alles daran setzen, den patienten- und arztschützenden Charakter der Berufsordnung zu erhalten.“

Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Chancen von ausschließlicher Telemedizin – unabhängig davon, ob sie über analoge oder digitale Kanäle erfolgt?

Erens: „Ausschließliche Telemedizin steht bei uns keineswegs auf der Agenda. Wir möchten vielmehr die ‚klassische‘ ärztliche Versorgung in Praxen und Krankenhäusern ergänzen und dies vor einer flächendeckenden Einführung zunächst einmal eingehend testen.

Im Vordergrund steht dabei für uns, dass die Ärzteschaft bei der Telemedizin die Rahmenbedingungen vorgeben sollte – und nicht etwa beispielsweise die Industrie oder kapitalorientierte Gesellschaften.

In Zeiten von zunehmendem Ärztemangel und ungünstigen Bedingungen für die Ausübung des Arztberufs sehen wir Telemedizin als Chance, die kostbare ‚Arzt-Zeit‘ bei bestimmten Fragestellungen noch gewinnbringender als bisher einzusetzen. – Dass auch Patienten zunehmend lieber ihren Computer oder das Smartphone für den Arztkontakt verwenden, als lange Wartezeiten in Praxis oder Klinik in Kauf zu nehmen, beflügelt diese Überlegungen logischerweise genauso wie die technische Machbarkeit heutzutage.“

Welche Grenzen müssen dabei eingehalten werden?

Erens: „Nach vorheriger Zustimmung der Kammer sind jetzt Modellprojekte möglich, in denen die ausschließliche Fernbehandlung erprobt wird. Sie müssen wissenschaftlich evaluiert werden.

Natürlich ist die Telemedizin etwas völlig anderes als der unmittelbare Arzt-Patienten-Kontakt. Der Mediziner muss sich auf die Schilderung des Patienten verlassen, kann keine körperliche Untersuchung vornehmen und ist auch hinsichtlich therapeutischer Maßnahmen eingeschränkt. Das alles limitiert natürlich auch das telemedizinische Krankheitsspektrum und erhöht unter Umständen auch das ärztliche Haftungsrisiko. – Nicht zuletzt deshalb wird es nötig sein, den Fragenden beim leisesten Zweifel auf die nächste Arztpraxis oder Klinik zu verweisen.“

Stichwort „AMG-Novelle“: Gesetze sollen künftig verhindern, dass Patienten Rezepte einlösen können, wenn sie nicht vorher persönlich beim Arzt waren. Wie ist das mit der Möglichkeit einer ausschließlichen Fernbehandlung vereinbar?

Erens: „Wir haben zunächst mit Bedauern auf diese Entscheidung reagiert und sind jetzt dabei, diesen Zusammenhang genauer zu untersuchen. Dabei ist aber zu bedenken, dass nicht jeder Arzt-Patienten-Kontakt im Ausstellen eines Rezeptes münden muss – und vielleicht schon gar nicht bei der Telemedizin.“

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft: Wie sieht ärztliche Versorgung im Jahr 2020 aus?

Erens: „Wir möchten im kommenden Jahr ein Pilotprojekt an den Start bringen, mit dem die Ärzteschaft, die Versicherten, die Krankenkassen, die Politik und alle weiteren interessierten Kreise erste Erfahrungen sammeln können. Das ist der erste Schritt. Wenn wir den getan haben, können wir über den nächsten Schritt nachdenken und dabei auch die Ergebnisse der Evaluation einfließen lassen. Fragen Sie mich also gerne noch einmal, wenn wir ein Stückchen weiter sind.“


Dr. Oliver Erens hat in Frankfurt/Main und Nashville (USA) Medizin studiert. Seit 1997 leitet er die Stabsabteilung „Ärztliche Pressestelle“ der Landesärztekammer Baden-Württemberg, seit 2007 ist er zudem Chefredakteur des Ärztblatts Baden-Württemberg. Erens hat den Vorsitz des Verbandes der Medizin- und Wissenschaftsjournalisten e.V. in Stuttgart.

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